Wir halten uns für unverwundbar

Katastrophenschutz

Interview mit Prof. Dr. Peter Bradl, Leiter des Instituts für Rettungswesen, Notfall- und Katastrophenmanagement (IREM) an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt.

Hitzewellen und Überflutungen durch Starkregen – extreme Wetterereignisse mit gravierenden Folgen nehmen auch in Deutschland zu. Über Notfallnetze und Risikoeinschätzung sprachen wir mit Prof. Dr. Peter Bradl, Leiter des Instituts für Rettungswesen, Notfall- und Katastrophenmanagement (IREM) an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt.

TiB: Herr Prof. Bradl, bei der Flutkatastrophe im letzten Jahr verloren 189 Menschen ihr Leben und es wurde ein Chaos bei den Hilfsmaßnahmen deutlich. Können Sie uns die jeweiligen Zuständigkeiten des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und die der regionalen Behörden erklären?

Peter Bradl: Wir unterscheiden zwischen Zivilschutz und Katastrophenschutz – letzterer ist klare Ländersache. Deshalb haben wir in Deutschland leider auch 16 Katastrophenschutzgesetze. Bei regionalen Schadensereignissen liegt die Verantwortung in letzter Konsequenz bei dem obersten Verwaltungsbeamten auf kommunaler Ebene. Das ist in den Landkreisen der Landrat oder die Landrätin. Ob diese Personen die Gefährdungslage überhaupt richtig einschätzen können, – sprich die wichtigen Informationen aus einer großen Menge an Daten finden und dann die richtigen Schlüsse ziehen – ist zu hinterfragen. Trotzdem wird erstmals gegen einen ehemaligen Landrat wegen fahrlässiger Tötung ermittelt. Im Ahrtal war es zu Beginn eine regionale Katastrophe, die sich dann aber aufgrund der Dimensionen so ausgeweitet hat, dass im Land Rheinland-Pfalz Katastrophenstatus ausgerufen wurde und auch zusätzliche Hilfeleistungen aus anderen Bundesländern über die jeweiligen Innenministerien angefordert werden mussten. In solchen Lagen kann Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) unterstützen und so genannte Katastrophenhilfe leisten. Anders verhält es sich beim klassischen Zivilschutz im Verteidigungsfall – der ist natürlich Bundessache. Wir müssen uns hier auch darüber im Klaren sein, dass die Bundeswehr außerhalb ihres Tätigkeitsbereichs Amtshilfe leistet, wenn sie z. B. bei der Fluthilfe im Innern tätig ist. Das BBK als Behörde des Ministeriums des Inneren stellt letztlich die übergreifende Kompetenz dar und soll die Länder in vielerlei Dimensionen unterstützen. Im Ernstfall, wenn möglicherweise der Bündnisfall eintritt, dann haben wir auch ganz andere Zugriffsrechte. Ein Beispiel ist hier das Deutsche Rote Kreuz (DRK)-Gesetz, nachdem im Kriegsfall medizinisches Personal abberufen werden kann.

TiB: Ein Jahr nach der Katastrophe gibt es im Ahrtal einen vorläufigen Beschluss, von 9.000 zerstörten Häusern lediglich 34 nicht mehr wiederaufzubauen.

Bradl: Das ist eine politische Entscheidung und kommt den Hoffnungen der betroffenen Menschen entgegen, aber diese Entscheidung ist überdenkenswert. Ich würde als erstes sagen: Umsicht bei der Standortwahl: Wir müssen dem Wasser Raum und Ausuferungsflächen bieten – welche wir in den vergangenen Jahrzehnten stetig reduziert haben, – denn es sucht sich immer seinen Weg. Im Ahrtal sind ca. 60 Brücken zerstört worden – entweder, weil der Unrat die Querschnitte verstopfte und sich dann durch kaskadierende Effekte hohe Wellen gebildet haben, oder weil das Wasser flach gegründete Brücken unterspült und weggerissen hat.

TiB: Beim Hochwasserschutz geht es also um politische Entscheidungen?

Bradl: Ja sicher auch, die eigentliche Frage ist: Wer hat zu welcher Zeit welche Aufgabe. Z. B. in einer Vorplanungsphase zur Gebiets- und Siedlungsplanung, bei der Erstellung von Risikoplänen oder in einer Ereignissituation. Wer entscheidet was? Denken Sie an ein Szenario, in welchem sehr sicher davon auszugehen ist, dass Rückhaltecken oder Dämme die aufstauenden und steigenden Wassermassen nicht mehr aufhalten können und nach Evakuierung der betroffenen Bereiche durch gezieltes Öffnen eine Ausuferungsfläche geschaffen werden könnte. Diese Maßnahme hilft einerseits eine unkontrollierte Entwicklung zu vermeiden und bringt zeitgleich Leid für Menschen, Tiere und Natur in diesem Bereich – könnte aber eine größere Katastrophe verhindern. Wer trifft die Entscheidung, dass Gebiet „X“ „aufgegeben wird“, um Gebiet „Y“ zu schonen? Dürfen diese Kollateralschäden überhaupt gedacht werden? Denn jemand muss auf den Knopf drücken und sagen: Wir werden das Ding jetzt sprengen, um eine Ausuferungsfläche zu schaffen. Doch solche Entscheidungen müssen im Vorfeld getroffen werden und nicht dann, wenn die Katastrophe da ist. Idealerweise sind sie überhaupt verzichtbar, weil mögliche Risiken im Vorfeld abgewogen wurden und geeignete bauliche Maßnahmen ergriffen wurden.

TiB: Kommen wir zurück auf den Einsatzfall. Wie sieht die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Hilfsdiensten aus?

Bradl: Hierzu gibt es einen schönen Ausspruch über die 3 Ks im Einsatzgeschehen: „In Krisen Köpfe kennen“. Sie brauchen immer Menschen, die Ihnen im Vorfeld bekannt sind und dann haben Sie im Einsatzgeschehen auch bestehendes Vertrauen, auf das Sie bauen können. Wenn der Katastrophenfall ausgerufen wird, dann agieren vor Ort die Akteure der Feuerwehren, des THW sowie der fünf großen Hilfsorganisationen und weitere gemeinsam. In der Regel stellen die Katastrophenschutzeinheiten von Arbeitersamariter Bund (ASB), Johanniter Unfallhilfe e. V., Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Malteser Hilfsdienst und die DLRG die Schnelleinsatzgruppen und die Rettungskräfte.

TiB: Wir stellen uns die Koordination der verschiedenen Dienste kompliziert vor. Wie funktioniert das in der Praxis?

Bradl: Es gibt Führungsstrukturen der Feuerwehr, die ganz klar vorgeben, in welchen Zuständigkeiten – vor Ort und in den Stäben gearbeitet wird. Diese skalierbaren Strukturen bestehen auch bei der Bundeswehr, den Rettungsdiensten und der Polizei und daher können diese miteinander arbeiten. Das heißt, eine Einsatzleitung vor Ort kann Unterabschnitte bilden. Es gibt bspw. die sog. Fünfer-Regel, die besagt: Mehr als 5 Köpfe führe ich nicht. Darüberhinaus gibt es einen operativ-taktischen Stab und einen Verwaltungsstab, wobei letzterer bspw. im Rahmen der Beschaffungen die Verbindung zwischen den Verantwortlichen vor Ort und der Verwaltung herstellt und letztendlich Fragestellungen zu Abrechnung und Finanzierung klärt.

TiB: Was passiert im Katastrophenfall?

Bradl: Wir grenzen zwei Arten der Hilfeleistung im Katastrophenfall ab, die technische und die medizinische. Die technische Hilfeleistung wird meist durch die Feuerwehr und das THW sichergestellt sowie spezielle Einheiten der Hilfsorganisationen oder auch die Bundeswehr. Und dann haben wir die Hilfeleistung für bzw. direkt am Menschen (Betreuung, Behandlung etc.). Das wird über die rettungs- und sanitätsdienstlichen Kompetenzbereiche bei den Hilfsorganisationen geleistet.

TiB: Wie läuft die Alarmierung der Dienste?

Bradl: Wir haben in Deutschland mittlerweile Digitalfunk mit digitalen Meldern, ugs. Piepser. Wenn ein Einsatz ansteht, bekommen Sie je nach ihrer Aufgabe bzw. Rolle und Schadenslage die entsprechende Meldung. Parallel dazu haben wir heute verschiedene Apps, wo die integrierten Leitstellen Meldungen aufspielen können und dann teilweise noch zusätzlich über Messenger-Dienste kommunizieren. Die digitalen Empfangsgeräte – die Piepser haben den Vorteil, dass Sie als Einsatzkraft auch rückmelden können, was für den Kräfteansatz wichtig ist. Diese „persönlichen Sirenen“ laufen in einem eigenen Netz, dem TETRA-Netz oder analog über den klassischen BOS-Funk 4m.

TiB: Die Kritik an fehlender Information für die Bevölkerung war groß. Wie kann man hier vorgehen?

Bradl: Ich selbst habe zur Zeit der AhrtalFlut regelmäßig die Wettermeldungen abgefragt und habe die angegebene Niederschlagsmenge von 200l/m2 zunächst für einen Fehler gehalten. Was kann hier vom Bürger erwartet werden – was bedeutet diese Menge an Wasser? Das heißt, wir, resp. die Menschen, sind gar nicht in der Lage, Gefahren richtig einzuschätzen. Und als Zweites, selbst, wenn wir gewarnt werden, wissen wir nicht, welche Gefahr es ist, denn wir kennen die Signale nicht und drittens sind wir dadurch noch nicht in der Lage, Handlungen abzuleiten. Hinzu kommt, dass von 80.000 Sirenen in Deutschland bei der Wiedervereinigung nur noch ca. 10.000 in Betrieb sind und wir nicht mehr über die technischen Möglichkeiten zu warnen verfügen.

TiB: Es gibt auch Warn-Apps, aber nicht alle Menschen schlafen auf ihrem Handy. Wie kann eine funktionierende Alarmierung aussehen?

Bradl: Grundsätzlich ist das für Ende des Jahres terminierte Cell-Broadcast ein richtiger Schritt, um die Bevölkerung großflächig zu erreichen. Dabei stellen sich zwei weitere grundsätzliche, eher nichttechnische Fragen: Was kommuniziere ich und Ist die Bevölkerung in der Lage, damit umzugehen? Wir haben Handlungsbedarf in allen Punkten. Die Frage der Kommunikationswege ist klar, da müssen wir schnell handeln und den Rückbau der Sirenen wieder umkehren. Wir müssen eine Maßnahme zum Selbstschutz der Bevölkerung haben. Aber ich bin der Überzeugung, dass wir noch nicht einmal in der Lage sind, der Bevölkerung klarzumachen, was Gefahr ist und es fehlt auch an der Akzeptanz, dass die Natur stärker ist und gewinnt.

TiB: Wie könnten wir uns einen resilienten Rettungsdienst vorstellen?

Bradl: Mit einer resilienten Bevölkerung, denn zwischen 15 und 20 % aller Einsätze gelten als nicht sachgerecht und blockieren die Dienste. Um das zu ändern, müsste man die Nachfrageseite ändern, und nicht wie jetzt, stets das Angebot erhöhen. Die Rettungsdienste und diese Systeme funktionieren gut, aber wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass ein Einsatz immer Menschen – die Einsatzkräfte und andere Unbeteiligte auf deren Anfahrtswegen – in Gefahr bringt. Das bedeutet, dass vor der Frage der Alarmierung jeder für sich klären muss, ob das Problem tatsächlich ausschließlich durch den Rettungsdienst gelöst werden kann – oder ob eine eigenständige Vorstellung beim ärztlichen Notdienst nicht die sachgerechte(re) Alternative darstellt.

TiB: Und eine resiliente Gefahrenabwehr?

Bradl: Es gibt letztlich drei Arten mit Risiko umzugehen: Vermeiden, Minimieren und Abwälzen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In der Arbeitsumwelt vor 40 Jahren hatten LKWs eine mechanische Ladeklappe, die man öffnen konnte. Heute gibt es Ladebordwände, die mit einem elektro-hydraulischen Hubmechanismus verbunden sind, der die Klappe nur hebt und senkt, wenn beide Füße auf zwei bestimmten Tastern stehen, sodass Sie keine Quetschgefahr mehr haben. Die Gefahr wird somit stark minimiert und damit also faktisch eliminiert. Oder sehen Sie sich unsere Autos an: wir fahren mit ABS, Abstandswarner, automatisierter Zwangsbremse etc. Diese „Gefahrenabwehr“ können Sie auf viele Lebensbereiche anwenden und in der Konsequenz (er)kennen wir keine Gefahr mehr. Das bedeutet aber, dass wir zunehmend das Verständnis verlieren, dass das Leben per se Gefahren birgt.

Und es wird uns auf vielen Gebieten klargemacht: Du musst dich um nichts mehr kümmern. Resilienz ist, wenn ich nach einer Krise wieder in einen stabilen Zustand gelange. Wir sind nicht zwingend resilient, wenn es um Gefahren geht, wenn wir uns mitunter für unverwundbar halten – denn dann überrascht uns jedes Ereignis.

Das Interview führten Fritz Münzel und Silvia Stettmayer.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2022 SEP/OKT