Transparenz ist nicht aus jeder Perspektive gut

Komplexe Lieferketten in Zeiten der Industrie 4.0

Interview mit Ralf Schmidt, Head of Business Unit Manufacturing/ Automotive & Supply Chain Management, der Scheer GmbH

Komplexe Lieferketten sind geradezu prädestiniert für die digitalisierten Prozesse der Industrie 4.0. Die TiB sprach mit Ralf Schmidt über die Auswirkungen der neuen Technologien. Im Gespräch ging es um den Wandel und zukünftige Trends in der Supply Chain. Auch mögliche Risiken und ein Vergleich der verschiedenen Branchen waren Thema.

Technik in Bayern: Wie hat sich das Thema Lieferkette/Supply Chain in den letzten Jahren gewandelt?

Ralf Schmidt: Aus meiner Sicht ist das Management der Supply Chain, insbesondere die strategische, taktische und operative Logistikplanung zur Kernkompetenz von Produktionsunternehmen geworden. Dies betrifft die internen als auch die unternehmensübergreifenden Logistikprozesse. Die physische Transportabwicklung intern und extern wird zunehmend von Dienstleistern durchgeführt. Hier ist Kosteneffizienz gefragt, d.h. der Grad der Automatisierung bis tief hinein in die Läger muss zunehmen.

Die Logistik wird zudem zukünftig die Aufgabe haben, sämtliche relevanten Informationen entlang der Wertschöpfungskette zur Verfügung zu stellen. Themen wie „Track and Trace“, also Nachverfolgbarkeit und auch Rückverfolgbarkeit von Produkten rücken in den Vordergrund, und dies nicht nur aufgrund geänderter gesetzlicher Vorgaben wie beispielsweise in der Pharmaindustrie.

TiB: Gibt es klare Trends zu speziellen Technologien, gerade was die Nachverfolgbarkeit betrifft?

Schmidt: Hier wäre für die Erfassung der Produkte RFID zu nennen. Diese Technologie hat vor einigen Jahren großes Aufsehen erregt. Damals haben viele versucht, es anzuwenden, und es gab noch zu viele Fehler, die Anwendungen waren auch nicht ausreichend für eine Vollautomatisierung. Das hat sich geändert, diese Technologie ist inzwischen sehr gut geeignet für die Praxisanwendung. Des Weiteren erlauben die Speicherung und Nutzung von großen Datenmengen in der Cloud bzw. in dafür geeignete Plattformen mit Hilfe von neuen Applikationen eine Vielzahl von Auswertungsmöglichkeiten bis hinunter auf die einzelne Entität.

TiB: Geht es beim Thema Digitalisierung um die Vernetzung bestehender Systeme, um einen vernünftigen Datenaustausch zwischen den Akteuren und den unterschiedlichen Systemen oder um Appliances, also zusätzliche Geräte im bestehenden System?

Schmidt: Die Vernetzung von Systemen ist die Voraussetzung, um Daten über die gesamte Supply Chain auszutauschen. Die Arbeitsteilung und der technologische Fortschritt erzwingen einen Datenaustausch in nahezu Echtzeit zwischen den Akteuren und den Systemen. Zusätzliche Geräte wie Lesegeräte, Sensoren, Aktoren sind notwendig, um noch mehr benötigte Daten zu erhalten.

TiB: Gibt es für diesen Austausch Regeln und Vorgaben oder wird das individuell geregelt?

Schmidt: Für den Austausch von Daten und Informationen sind Regeln und Vorgaben unbedingt notwendig, um Schnittstellenkosten zu reduzieren. Standards wie beispielsweise beim Datenaustausch per EDI sind zumindest in den jeweiligen Branchensegmenten notwendig. Dies ist nicht nur ein nationales, sondern ein internationales Thema.

TiB: Welche Branchen sind bei der Digitalisierung am weitesten?

Schmidt: Die Automobilindustrie nimmt beim Thema Digitalisierung in der Supply Chain wieder einmal die Vorreiterrolle ein. Das liegt daran, dass hier die Kreativität maßgeblich für den Erfolg verantwortlich ist und der Kostendruck in der Branche stetig steigt. Die Pharma- und Konsumgüterindustrie folgen aufgrund gesetzlicher Regularien. Der Handel und die chemische Industrie haben das Thema auch schon umfänglich aufgegriffen.

TiB: Inwiefern profitieren klassische Produktionsprozesse zusätzlich zu den Klassikern „Just in sequence“ und „Just in Time“ von einer Digitalisierung der Supply Chain, oder sind die Lösungen der Automobilindustrie schon state of the art?

Schmidt: Ich bin der Meinung, dass beispielsweise das durchgängige Tracking der Werkstücke in ersten Pilotanwendungen und die damit die konsequente Datenintegration, auch für die klassischen Produktionsprozesse in allen Branchen Modellcharakter hat. Erste Ergebnisse zeigen, dass sich durch die Digitalisierung die Produktionslagerbestände um bis zu 30 % reduzieren lassen. Hier können große Kostenreduktionspotenziale gehoben werden.

TiB: Welche Risiken birgt das Thema Digitalisierung der Supply Chain, und wie sollten man diesen begegnen?

Schmidt: Ich würde es lieber Hürden bei der Digitalisierung nennen, die zu überwinden sind. Zum einen ist es das Know-how in den Unternehmen. In Workshops fehlen bei den Mitarbeiter und den Führungskräften heute noch die umfassenden und tieferen Kenntnisse bzgl. der Komponenten der Digitalisierung, der Einsatzmöglichkeiten und der Risiken. Im Saarland gibt es seit diesem Jahr einen Studiengang zum „Fachwirt Industrie 4.0“. Fach- und Führungskräfte aus der Industrie werden berufsbegleitend befähigt, das Gesamtthema zu verstehen und dann in Projekten ihr hohes fachliches Wissen über Produktionsprozesse mit den neuen technischen Möglichkeiten und Methoden zu verbinden.

Ein anderes großes Thema ist die Sicherheit. Gerade in Deutschland gibt es große Bedenken, dass wichtige Unternehmensdaten, sprich Produktions- und Logistikdaten, in die falschen Hände geraten. Es fehlt den Unternehmen beim Thema Sicherheit die Orientierung, es mangelt an qualifiziertem Personal. Die verschiedenen Industrieverbände versuchen hier umfassende und verbindliche Richtlinien zu schaffen.

TiB: Aus strategischer Sicht ist Transparenz sicher zu befürworten, aber sie ist doch nicht aus jeder Perspektive gut?

Schmidt: Natürlich wird die Vergleichbarkeit der Unternehmen untereinander und der Produktionsstätten innerhalb von Unternehmen immer größer. Früher waren die Datenbasis und die Berechnungsmethoden nicht immer transparent, man hat teilweise Äpfel mit Birnen verglichen. Jetzt ist aufgrund der Datenverfügbarkeit und -integration eine bessere Vergleichbarkeit möglich. Aus Unternehmenssicht ist das sicher wünschenswert, denn man sieht, wo wirklich Verbesserungspotentiale bestehen. Für den Einzelnen erhöht sich damit auch der Druck in Richtung Effizienz.

TiB: Welche Hauptaufgaben beschäftigen Sie aktuell in Ihrer Position, und sind Ihre Projekte eher bei Unternehmen, die schon auf dem Weg sind und eine Professionalität suchen oder müssen Sie quasi den Basisprozess starten?

Schmidt: Mein Hauptaugenmerk richtet sich momentan auf die Prozesse der Planung, Fertigungssteuerung und Logistik im Supply Chain Management und deren Digitalisierung. SAP hat mit ihrer neuen ERP-Lösung SAP S/4 HANA und der Supply Chain Lösung Integrated Business Planning (IBP) neue bzw. erweiterte Funktionalitäten auf den Markt gebracht. Es geht jetzt nicht mehr nur um die Abarbeitung von Transaktionen, sondern mehr um die Themen Analytik, Simulation und Handlungsempfehlungen. Die Transformation der bestehenden SAP-Lösungen gepaart mit der Integration der neuen Komponenten von Industrie 4.0 wie CPS-Systeme, Machine Learning, Augmented Reality etc. in eine Gesamtarchitektur sind unsere zukünftigen Betätigungsfelder. Hier sind schon Gespräche sowie einzelne Workshops mit den „First-Adoptern“ im Gange, einige Unternehmen gehen die ersten Schritte.

Die überwiegende Anzahl der Projekte ist noch geprägt von der Schaffung der Voraussetzungen für Industrie 4.0. Hier stehen die Themen Prozess- und Systemharmonisierung sowie das Stammdatenmanagement im Mittelpunkt.

TiB: Werden auch CRM-Systeme (Customer Relationship Management), also der Kundenbezug gefordert?

Schmidt: CRM-Systeme sind schon seit Jahren im stetigen Wachstum. Das Thema Kundenorientierung hat in den Unternehmen eine zentrale Bedeutung erreicht, die über die direkten Vertriebsprozesse hinausgehen. Alle Prozesse, auch die in der Supply Chain, haben die Ausrichtung auf den Kunden oder sogar dessen Kunden erfahren.

TiB: Welche technischen Lösungen werden hier präferiert, und welche Herausforderungen sind damit verbunden?

Schmidt: Man erkennt sehr gut, dass immer mehr speziellere Lösungen benötigt werden und damit die Komplexität in der IT zunimmt. Neben dem ERP-System, mit dem ich die klassischen Prozesse im Sinne eines Backbone abwickeln kann, sind zusätzlich Systeme für den Vertrieb – beispielsweise CRM-Systeme – oder die Supply Chain mit erweiterten Funktionalitäten im Einsatz. Diese komplexe Systemwelt zu beherrschen und zu administrieren ist gerade für den Mittelstand eine große Herausforderung. Cloud-basierte Systeme bieten eine Alternative und werden aus meiner Sicht zunehmend an Bedeutung gewinnen.

TiB: Wie schneidet aktuell der deutsche Mittelstand beim Thema Digitalisierung ab?

Schmidt: In Europa hat Deutschland bei der Digitalisierung eine Vorreiterrolle. International gesehen hat man in den USA, in China und Japan die Richtung erkannt und fokussiert sich auf das Thema. Ich habe den Eindruck, dass unser Vorsprung schnell schmelzen könnte. Den Mittelstand in Deutschland sehe ich immer noch in einer Wartestellung, wobei wir schon mit zahlreichen „First-Movern“ in konkreten Gesprächen bzw. Projekten sind.

TiB: Können Sie uns noch ein Beispiel für die Veränderungen in der Supply Chain nennen, das diese Prozesse etwas veranschaulicht?

Schmidt: Die Veränderungen in der Supply Chain können beispielsweise bei Anlagenbauer sehr gut aufgezeigt werden. Werden ganze Gewerke inkl. Konstruktion beim Lieferanten bestellt, so war der Prozess früher durch ein hohes manuelles Handling, keine Transparenz zur Lieferung und Vollständigkeit sowie durch einen hohen Aufwand in der Logistik geprägt.

Die Nutzung neuer Technologien wie RFID, unternehmensübergreifende Datenaustauschplattformen und Systemintegrationen führt zu einer höheren Prozesstransparenz, höherer Flexibilität bei Änderungen aufgrund der Verfügbarkeit der Daten in Echtzeit. Die Reduzierung des manuellen Handlings und der Medienbrüche sind zwei weitere Vorteile.

TiB: Sinkt dadurch auch die Fehlerquote?

Schmidt: Natürlich, die Fehlerquote sinkt, und die Transparenz erhöht sich. Um beim Beispiel des Anlagenbauers zu bleiben: Über die Tags und eine Internetlösung sind die Informationen des Lieferanten über ein Paket sowohl im Lager des Unternehmens als auch später auf der Baustelle direkt verfügbar. Durch RFID-Technologie, durch Systemintegration und durch vorausschauende Lieferavisierung läuft dieser komplexe Prozess wesentlich effizienter. Und auch der Monteur auf einer weit entfernten Baustelle hat plötzlich die vollständig benötigten Information in aktueller Form sowie alle Dokumente zur Anlage. Er ist nicht mehr darauf angewiesen, dass alle Papier-Ordner mitgeliefert werden, damit er nachschauen kann, wie die Anlage aufgebaut werden soll.

TiB: Welche Trends und Veränderungen sehen Sie beim Thema Supply Chain (Management) in der Zukunft?

Schmidt: Der wichtigste Trend ist sicher, dass die Automatisierung weiter vorangetrieben wird. Ein großes Thema werden auch die unterstützenden Maschinen, also Robots. Was sich auch abzeichnet, sind Cloudlösungen und ganz wichtig das Thema Plattformen. Viele Firmen denken darüber nach, Informationen kundengerecht auch teilweise von Mitwettbewerbern auf einer IT-Plattform bereitzustellen. Kunden werden damit ganzheitlicher bedient, neue Geschäftsfelder können sich erschließen.

Schmidt: Ja, genau, über diese Dinge wird nachgedacht und einige Akteure werden sich dadurch konsolidieren.

TiB: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Wolfgang Berger und Silvia Stettmayer

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2017 Mai/Juni