Produktion im städtischen Raum

Durch Symbiose Leben und Arbeiten wieder in Einklang bringen

Beitrag von Dipl.-Ing. Michael Hertwig, Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, Stuttgart

Die Verflechtung zwischen Leben und Produktion sind für Unternehmen eine Herausforderung, denn Änderungen führen zu Widerständen. Symbiosen können negative Einflüsse reduzieren und positive Einflüsse steigern. Welche aktuellen Herausforderungen in der Produktion anzugehen sind und wie Ansätze zur Symbiose von Leben und Arbeit aussehen erfahren Sie nachfolgend. Anhand eines konkreten Anwendungsbeispiels wird zudem erläutert, wie erfolgreiche Produktion im städtischen Raum aussehen kann.

Aktuelle Herausforderungen in der Produktion

Industrielle Produktion ist seit der industriellen Revolution unumstößlich mit dem wachsenden Wohlstand verbunden. Damit waren potenzielle Arbeitsstätten immer attraktiv für die Ansiedlung von Menschen.

Heute gibt es viele Beispiele, wo produzierende Unternehmen in direkter Nachbarschaft zu Wohnarealen existieren.
Veränderungen des aktuellen Status Quo vor Ort führt immer wieder zu Reibungen, da Produktion immer mit dreckig, laut, stinkend und unattraktiv assoziiert wird [1]. Viele Unternehmen scheuen die Konfrontation und suchen sich neue Standorte, meist außerhalb. Betrachtet man Metropolregionen, dann wird schnell sichtbar, dass hier eine Flächenkonkurrenz in ausgeprägter Form vorliegt. Sichtbar für die Bewohner wird das vielfach durch steil steigende Miet- und Wohnungspreise. Auch sind geeignete Grundstücke, die für eine Entwicklung für Unternehmen verfügbar sind, sehr begrenzt, wie z.B. aus der Analyse des Amts für Stadtplanung der Stadt Stuttgart hervorgeht [2].

Waren Optimierungsinitiativen der Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt bemüht, Skaleneffekte nutzen zu können, so ändert sich heute das Kundenverhalten und stellt die Unternehmen vor veränderte Zielkonflikte [3]. Denn der Trend geht Richtung Individualisierung und Customizing ­­­­– damit sind Unternehmen gezwungen, auch Wünsche Einzelner adäquat zu befriedigen. Die Mengen gleicher Produkte reduzieren sich demnach, was die Nutzung von Skaleneffekten erschwert.

Potenziale von verträglicher Produktion im urbanen Umfeld

Mit der voranschreitenden Digitalisierung wird es möglich, auch Produktion neu zu denken. In vielen Unternehmen gehören digitale Werkzeuge dazu wie der Maschinenpark [4]. Ausgehend von aktuellen Gedanken der Industrie 4.0 soll es mit der zunehmenden digitalen Beschreibung von Produktionsprozessen möglich sein, Produkte in geringer Stückzahl mit gleicher Effizienz zu realisieren.

Durch die Regionalisierung der Produkte werden immer mehr Produktionsstätten in der Zielregion etabliert, was ebenfalls zur Reduktion der Produktionsmenge führt. Damit werden auch kundennahe Produktionsstätten möglich. Durch die Kombination von baugleichen Kernkomponenten mit kundenindividuellen Designs oder Funktionskomponenten können wettbewerbsorientiert Kundenbedürfnisse befriedigt werden.

Mehrwert durch urbane Produktionsunternehmen

Die räumliche Nähe zwischen Wohnung und Arbeitsplatz bietet den Angestellten Flexibilisierung der Arbeitsprozesse. Die Steigerung der Personalflexibilität erlaubt den Unternehmen passend zur Nachfrage die Auslastung zu steuern. Aufwände lassen sich entsprechend der Bedarfe steuern. Damit kann ein Effizienzgewinn von mehreren Prozentpunkten realisiert werden. Zusätzlich profitieren die Mitarbeiter von der Flexibilität, denn damit einhergeht die Stärkung der Work-Life Balance für die Mitarbeiter.

Für die Kommune oder Stadt ist der Erhalt der Produktionsstätte ein hohes Ziel. Die Unternehmen entrichten Steuern und führen teilweise zu überregionaler Bedeutung. Weiterhin sind Arbeitsplätze für die lokal lebenden Menschen wichtig, um den Wohlstand zu halten und Perspektiven für die Bevölkerung zu sichern. Gleichzeitig kann ein urbanes Produktionsunternehmen weitere Mehrwerte einbringen. Durch die Etablierung von Symbiosen mit dem Umfeld lassen sich evtl. größere positive Beiträge realisieren als nur durch die Steuern und Abgaben.

Ressourceneffizienz und Symbiose-Ansätze

Das Wachstumsstreben führt zu verstärktem Ressourcenbedarf. Aktuelle Projekte und Initiativen haben das Ziel Stoff- und Energiekreisläufe zu schließen und so ressourcenschonende Prozesse zu etablieren. Dabei steht vermehrt auch die Nutzung von Nebenprodukten im Fokus.

Die Zielsetzung ist, die eingesetzten Ressourcen, Material, Energie, Mensch und Kapital so zu nutzen, dass die Erzeugung des Produkts optimiert ist [5]. Produktionsprozesse im Unternehmen werden mit Berücksichtigung der fünf Perspektiven – Material, Energie, Emission, Mensch und Organisation – analysiert und durch Maßnahmen verbessert, sodass die Materialverwertung und die Energiegewinnung optimiert sind. Diese Anpassung der Wertschöpfung bedeutet Minimierung bis Eliminierung von Emissionen, Abfall und Verschwendung.

Innerhalb des Unternehmens sind die Potenziale für die Optimierung begrenzt. Die Maßnahmen können organisatorisch, technisch und prozessual ausgeprägt sein. Sind die ersten Maßnahmen mit großem Potenzial realisiert, werden weitere Optimierungen nur mit sehr großem Aufwand möglich. Die 80:20 Regel beschreibt diesen Zusammenhang sehr gut. Die Unternehmen stehen vor der Herausforderung, mit begrenzten Ressourcen weiter die Ziele zu erreichen. Ein Hebel kann die Zusammenarbeit mit dem Umfeld sein.

Dazu müssen geeignete Beziehungen und Wechselwirkungen identifiziert und auf mögliche Symbiose-Effekte hin analysiert werden. Damit ist gemeint, sich zusammenzutun und gegenseitig ein Nutzenpotenzial zu finden, der größer ist als ohne die Kollaboration. Dazu ist es nötig alle Stakeholder in den Dialog einzubinden. Nur die Analyse aller Faktoren und Komponenten erlaubt die Identifikation von Handlungsfeldern und Potenzialen. Dabei ist wichtig, dass aus Betroffenen Beteiligte werden, die durch Einbringen von Impulsen und Engagement an der Mitgestaltung beteiligt sind.

In Forschungsprojekten, wie der „Ultraeffizienzfabrik“ (siehe Abbildung 1) oder „Positivwirkenden Fabrik“, wird eine Vision zur vollständigen Einbettung von Fertigungseinheiten in ihr Umfeld beschrieben [5 & 6].

In Forschungsprojekten, wie der „Ultraeffizienzfabrik“ (siehe Abbildung 1) oder „Positivwirkenden Fabrik“, wird eine Vision zur vollständigen Einbettung von Fertigungseinheiten in ihr Umfeld beschrieben [5 & 6]. Dabei sollen ganzheitlich Symbiosen hergestellt werden. Es soll ein Austausch von Energie und Nebenprodukten mit dem direkten Umfeld realisiert werden. Die Entwicklung von Symbiosen zielt sogar darauf ab, dass Reststoffe aus Haushalten und anderen Fabriken weiter verwertet werden [7].

Um diese Vision zu erreichen, sind diese Komponenten nötig:

  • Flexibles Produktionssystem
  • dezentrale Produktions-IT und Cyber-Physikalische Systeme
  • modulare und skalierbare technische Gebäudeausrüstung
  • Lern- und Trainingszentren
  • urbane Integration
  • anpassbare Fabrikgebäude und
  • symbiotische Flüsse.

Wittenstein bastian als Beispiel einer modernen Produktionsstätte

Gute Beispiele sind die Wittenstein bastian in Fellbach sowie Dornbracht in Iserlohn. Das neu in Fellbach errichtete Werk für Getriebe befindet sich direkt neben einer Passivhauswohnsiedlung, weshalb besondere Maßnahmen für die Sicherstellung eines 2-3 Schichtbetriebs nötig waren. Die direkte Nähe zur S-Bahn und dem Stadtzentrum von Fellbach zeigt die gelungene Integration in den urbanen Raum [8].

Bei der Neuerrichtung der Produktionshalle bei Dornbracht wurde diese so konzipiert, dass sie mit begrenztem Aufwand an geänderte Bedürfnisse angepasst werden kann. Es soll möglich sein, die Produktionsanlagen so zu positionieren, dass auch eine Veranstaltungsfläche für größere Menschengruppen entstehen könnte. Das etablierte Konzept der modularen Fabrik erlaubt es dem Unternehmen, kurzfristig auf Veränderungen zu reagieren [9].

Bewertbarkeit von finanziell nicht quantifizierbaren Maßnahmen

Investitionen von Unternehmen werden nur nach finanzieller Bewertung vorgenommen. Meist muss sich der finanzielle Einsatz innerhalb eines kurzen Zeitraums auch rechnen. Um diese Bewertung vornehmen zu können, müssen geplante Ausgaben und Einnahmen gegenübergestellt werden. Die Ausgaben sind einfach zu kalkulieren. Einnahmen aus Rückflüssen oder Einspareffekten lassen sich mehr oder weniger präzise quantifizieren. Es existieren aber auch Maßnahmen, die keine direkt quantifizierbaren Rückflüsse oder Einsparungen zulassen.

Aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen sind neben den quantifizierbaren Entwicklungsmaßnahmen auch weitere Maßnahmen ggf. positiv für die Unternehmensentwicklung. Diese Nicht-Quantifizierbarkeit verhindert deren realistische Betrachtung in der Unternehmensentwicklung. Hinzu kommt die Komplexität der Wirkmechanismen.

Die Bewertung der Abhängigkeiten lässt sich am besten durch Modellierung darstellen. Unter Einsatz der System-Dynamik können komplexe Abhängigkeiten dargestellt und Auswirkungen mittels Simulation bewertbar gemacht werden. Es wird selten möglich sein konkrete Kennzahlen, wie z. B. den Return on Invest (ROI), exakt zu bestimmen. Aber besonders Eigenschaften, bei denen viele schwierig zu quantifizierende Faktoren Einflüsse auf das Zusammenwirken haben, werden durch Simulation qualitativ bewertbar.

Der Einsatz von system-dynamischen Modellen erlaubt es, verschiedene Szenarien darzustellen. Damit lassen sich auch Potenziale sichtbar machen, die bisher bei einfachen Amortisationsbetrachtungen nicht ernsthaft betrachtet werden konnten, da deren Einspar- oder Effizienzzugewinneffekte nicht direkt erkennbar waren [10].

Anwendungsbeispiel für erfolgreiche Produktion im städtischen Raum

Mit einem real umgesetzten Beispiel lässt sich dies exemplarisch erläutern:

Ein Produktionsunternehmen sitzt im Industriegebiet einer mittelgroßen Stadt. Die Mitarbeiter wohnen in der Stadt, aber auch in umliegenden Ortschaften [11]. Das Unternehmen ist seit seiner Gründung kontinuierlich gewachsen. Aufgrund der guten Auftragslage wird eine Erweiterung nötig. Da innerhalb des Industriegebiets alle Grundstücke besetzt sind, sind nur zwei Varianten denkbar: Erstens die Entwicklung eines zweiten Standorts oder zweitens die Erweiterung auf dem Grundstück des ersten.

Welche Auswirkung hat die Entwicklung des bereits existierenden Standorts? Die verfügbare Freifläche, aktuell teilweise als Parkplatzfläche genutzt, wird für den Neubau benötigt. Die Folge ist die Verschärfung der Parkplatz-Situation und damit ggf. Unzufriedenheit der Mitarbeiter. Der gewählte Ansatz war die Einführung einer Werkszubringer-Linie. Durch den Dialog mit den Mitarbeitern konnten sowohl eine akzeptable Pendelzeit als auch erträgliche Kosten ermittelt werden. Mit diesen Informationen und der Auswertung der Privatadressen konnte in Zusammenarbeit mit dem lokalen ÖPNV-Anbieter ein passendes Transportkonzept entwickelt werden.

Durch Zuschuss des Unternehmens konnten attraktive Fahrpreise erreicht werden. Die Datenanalyse erlaubte eine effiziente Routenentwicklung. Die Parkplatz-Situation vor Ort entspannte sich und das Unternehmen musste keine zusätzlichen Flächen akquirieren, um diese als Parkplatz auszuweisen. Durch die Kooperation mit den anderen Unternehmen im Industriegebiet konnte die Auslastung des Shuttle-Systems effizienter gestaltet werden. Neben dem primären, angestrebten Effekt hat diese Maßnahme auch sekundäre Effekte.

Zusammenfassung und Ausblick

Produktion im urbanen Raum ist die Grundlage, um nachhaltige Wertschöpfung auch zukünftig in Deutschland zu haben. Denn auch zukünftig sind Unternehmen immer stärker gefordert, auch attraktiv für qualifizierte Fachkräfte zu sein. Der Wunsch vieler Mitarbeiter Arbeiten und Leben optimal miteinander zu vereinen kann nur funktionieren, wenn die Arbeitsorganisation entsprechend gestaltet ist und die Arbeitsstätte auch innerhalb einer angemessenen Zeit durch den Mitarbeiter erreichbar ist.

Die Forderung nach Optimierung von Ressourceneinsatz und Minimierung von Emissionen kann effektiv nur nach einem Umdenken erfolgen. Es müssen Zusammenarbeitsmodelle etabliert werden, die einen gegenseitigen Nutzen der beteiligten Partner schafft. Es existieren erste Unternehmen, die als Vorreiter konkret zeigen, welche Maßnahmen funktionieren können. Die Fraunhofer-Gesellschaft forscht mit verschiedenen Instituten daran, für Unternehmen und Kommunen Lösungsansätze und Werkzeuge bereitzustellen, um Produktion ökologisch, ökonomisch und nachhaltig zu gestalten.

Literatur

[1] ingenieur.de: Urbane Wertschöpfung: Wenn Industrie und Stadt wieder verschmelzen, 17.08.12
[2] Gwildis, Frank: Entwicklungskonzeption Wirtschaftsflächen für Stuttgart, Impulsvortrag am 28.04.2015, Innovationswerkstatt „Zukunftsfähige Produktion“
[3] Hu, S. J., „Evolving Paradigms of Manufacturing: From Mass Production to Mass Customization and Personalization” Procedia CIRP, Volume 7, pp. 3-8, 2013
[4] Erbstößer, Anne-Caroline: Produktion in der Stadt – Berliner Mischung 2.0, Technologiestiftung Berlin, 2016
[5] Lentes, Joachim; Mandel, Joerg; Schliessmann, Ursula; Blach, Roland; Hertwig, Michael; Kuhlmann, Timm: Competitive and sustainable manufacturing by means of ultra-efficient factories in urban surroundings; International Journal of Production Research, Volume 55, Issue 2, 480-491, 2017
[6] Herrmann, Christoph; Schmidt, Christopher; Kurle, Denis; Blume, Stefan; Thiede, Sebastian: Sustainability in Manufacturing and Factories of the Future. International Journal of Precision Engineering and Manufacturing-Green Technology, Volume 1, Issue 4, pp 283-292, 2014
[7] Herrmann, Christoph; Schmidt, Christopher; Kurle, Denis; Blume, Stefan; Thiede, Sebastian: The Positive Impact Factory – Transition from Eco-Efficiency to Eco-Effectiveness Strategies in Manufacturing. Procedia CIRP, Volume 29, pp 19-27, 2015
[8] Maier, Sabine: Urbane Produktion und Industrie 4.0: Die Produktion der Zukunft bei WITTENSTEIN, Pressemitteilung 18.06.2012
[9] Dornbracht, Matthias: Anders Denken – Anders Handelns, Workshop Innovationscluster Mit digitaler Produktion zur urbanen Produktion, 25.04.2013, Stuttgart, 2013
[10] Hertwig, Michael; Spath, Dieter (Hrsg.): HoliPOrt – Konzeptstudie – Holistische Standortentwicklung von produzierenden Unternehmen unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen mit dem Umfeld, Stuttgart, 2017
[11] Hundsdörfer, Rainer: Effizienz als Geschäftsmodell, Konferenz Ultraeffizienzfabrik, 9.12.2015, Fellbach, 2015
[12] N.N.: Vergleich der durchschnittlichen Emissionen einzelner Verkehrsmittel im Personenverkehr – Bezugsjahr 2016, Umweltbundesamt, TREMOD 5.72, 13.03.2018

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Januar/Februar