Der Mensch lebt trotzdem linear

Was macht die Künstliche Intelligenz mit uns?

Interview mit dem Soziologen Prof. Dr. Armin Nassehi

Künstliche Intelligenz wird unsere Arbeitswelt, unsere Gesellschaft, unser ganzes Leben grundlegend verändern. Und was dann? Die TiB sprach mit Prof. Dr. Armin Nassehi über die unbekannte KI: Im Gespräch ging es um mögliche Gefahren und die zukünftige Entwicklung von KI sowie die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf die Berufswelt

Technik in Bayern: Was technisch machbar ist, wird auch gemacht. Muss man den Gefahren entgegenwirken, indem man gerade bei KI nicht alles zulässt, beispielsweise durch gesetzliche Vorgaben wie beim autonomen Fahren?

Prof. Nassehi: Der erste Satz Ihrer Frage beinhaltet ja schon das Problem: Was man machen kann, wird auch gemacht, aber das gehört zum Forschen, zum Erfindergeist, zum Technischen per se dazu. Hier gibt es zunächst einmal selbstgewählte Kriterien. Die meisten Erfindungen werden ja nicht für etwas gemacht, sondern hier gibt es Menschen, die an etwas herumtüfteln und daraus dann etwas machen wollen. Wenn wir uns jetzt nicht nur auf KI, sondern auf die gesamte Informationstechnologie beziehen, dann sind die meisten Lösungen nicht für die Anwendungen erfunden worden, die wir jetzt haben.

Für mich ist die interessante Frage: Was macht man eigentlich vorher, wenn man gar nicht weiß, was damit passiert? Da würde man die Menschen aber geradezu diktatorisch einschränken, wenn man ihnen bereits vorher sagen würde, erstens, was dabei herauskommen soll, zweitens, wem das nützt und drittens, wie das auf die Gesellschaft wirkt.

Ich würde sagen, das Besondere an jeder Form von Innovation ist, dass man zunächst einmal mit selbst erfundenen Kriterien arbeitet. Diese Dynamik ist natürlich zuerst sehr produktiv. Die Gestalt der Innovation ist ja nicht, dass ich sage, wir machen freitags von 12.00-14.00 Uhr Innovation und den Rest der Woche mache ich mein Business. Das funktioniert natürlich nicht. Die Frage ist, ob man ein Umfeld mit selbst gewählten Kriterien hat, in dem man etwas Neues entwickeln kann.

Gerade in Deutschland – und wir sind ja eine Erfindernation – mussten Erfindungen oft gegen die Gesellschaft durchgesetzt werden. Die Leute haben gesagt: „Das braucht kein Mensch“; oder „Es gibt dafür keine Anwendung“; oder noch schlimmer: „Es wird dafür keinen Markt geben“. Natürlich ist es schwierig zu sagen, welche Abweichung von der Norm dann zum Erfolg wird. Nur wenige sind genial. Verrückt ist daran, dass eine Erfindung, wie z.B. die Handykamera, die keiner brauchte, auf einmal da war und man sie dann brauchte. Deshalb sind technische Innovationen nie nur etwas Technisches, sondern man muss eine Idee davon haben, in welcher Welt so etwas stattfindet. Wenn die Digitaltechnik nicht auf eine Gesellschaft treffen würde, die in sich schon so komplex und unübersichtlich ist, wie sie ist, dann könnte man damit nichts anfangen.

TiB: Diese Transformationen funktionieren nie. Ein Computer wäre im Mittelalter wohl Teufelszeug gewesen?

Nassehi: Ja, wobei in der Auffassung des Mittelalters das Teuflische ja darin besteht, dass man Dinge miteinander verknüpft, die nicht zusammengehören. Aber genau das macht ja die Computertechnik oder die KI. Sie bringt Dinge zusammen und macht sie vergleichbar, die eigentlich getrennt werden müssen. Im Mittelalter hatten wir Vergleichbares mit dem Buchdruck. Die Reproduktionsmöglichkeit der Heiligen Schrift und auch der Kritik daran war revolutionär. Interessant ist, dass – damals in Buchform und heute im Internet – die Pornographie die meisten Veröffentlichungen stellte.

TiB: Daraus ließe sich schließen, dass der Mensch sich nur langsam entwickelt und sich nicht „auf Null“ stellen lässt. Bei Algorithmen könnte das wahrscheinlich gehen, aber wir haben den Zugriff nicht mehr. Sie sind weitgehend unzugänglich. Sind Algorithmen unheimlich?

Nassehi: Es geht hier auch um eine relativ alte Kulturtechnik, nämlich die Mustererkennung. Auch die heutigen Algorithmen machen in gewisser Weise Mustererkennung, aber sie erkennen nicht nur, was da ist, sondern erschaffen gleichzeitig auch eine neue Struktur. Diese Rückkopplungsschleife ist etwas völlig Neues und sehr befremdlich.

TiB: Ist KI Jobkiller oder Jobmaschine?

Nassehi: Wenn man ehrlich ist, muss man konstatieren: Man weiß es nicht. Das ist vergleichbar mit der Technikentwicklung allgemein: Wir wissen im Moment noch nicht, in welche Richtung es geht. Natürlich muss der Staat diese Entwicklungen moderieren und wir werden feststellen, dass sich diese Moderation ändern muss.

Im Moment sind alle sozialen Sicherungssysteme noch auf Kontinuität von Arbeit, von Familien, von Produktionsverläufen, von Berufsverläufen abgestellt, und jede Abweichung davon ist eine Störung. Hier ändert sich gerade viel und auch die Art der Arbeit. Man muss sich die Frage stellen, inwieweit die Arbeit des Einzelnen ein Beitrag zur Herstellung eines Mehrwerts ist. Es werden immer mehr Menschen, bei denen das sehr viel ist, aber es werden immer weniger sein, die in der Masse zum Mehrwert beitragen. Hier müssen neue Lösungen gefunden werden. An diese Fragen muss man ziemlich emotionslos herangehen, denn auch die früheren Technologiesprünge haben erhebliche gesellschaftliche Verwerfungen produziert.

TiB: Diese Zukunftsfragen wurden politisch leider bis heute nicht gestellt. Wie gehen wir mit der Geschwindigkeit dieses Wandels um?

Nassehi: Auch die Anpassung der klassischen Industriegesellschaft an institutionell organisierbare Lebensverläufe war ja nicht einfach da. Es war ein großes Glück, dass in der Nachkriegszeit in den westlichen Industriestaaten sowohl ökonomische als auch kulturelle und politische Formen in eine Waage gebracht wurden. Produzenten wurden zu Konsumenten. Dieses Gleichgewicht geht auseinander. Die Gewinnmöglichkeiten sind inzwischen viel größer, aber die Distributionsmöglichkeiten viel kleiner geworden. Und damit haben wir ein Problem. Ich bin aber auch der Meinung, dass gerade diese neuen Techniken uns helfen werden, dieses Problem zu lösen.

Der alltägliche Umgang mit den neuen Technologien ist nicht das Problem. Das lernt man ziemlich schnell. Was sich nicht so schnell entwickelt, ist die Konsequenz für sowohl ökonomische als auch politische Prozesse. Die gesamten Informationsapparate haben sich komplett verändert, und in der heutigen „Echtzeitinformation“ kommt es zu einem Selektionsproblem. Hier müssen wir eine Selbstanpassung vornehmen und leben trotzdem linear und können somit keine Gleichzeitigkeiten herstellen. Die intelligenten Lösungen werden die sein, die diese Form von Parallelisierung herstellen.

TiB: Wenn wir uns beispielsweise Facebook ansehen, dann gibt es doch auch eine ganz neue Form von Unternehmen?

Nassehi: Ja, wobei sehr spannend ist, dass in der öffentlichen Wahrnehmung nicht transparent ist, dass es sich hier um eine gewinnorientierte Firma handelt, sondern dass es für viele den Charakter eines Wohlfahrtsunternehmens hat. Diese Art von nichtstofflicher Infrastruktur ist neu, und man muss sich fragen, wie man für die Gesellschaft transparent macht, um was es eigentlich geht.

TiB: Woher kommt diese enorme Geschwindigkeit und wie verändert sie uns?

Nassehi: Also wir sind ja nicht schlauer geworden, aber die investiven Notwendigkeiten sind heute viel geringer: Eine Produktionsstraße für den Automobilbau zu bauen, ist eine ganz andere Investition, als 10 Programmierer in ein Büro zu setzen. Wir erleben, dass sich die junge Generation auf diese Schnelligkeitsökonomie einlässt. Und diese neue Mentalität ist der Technik sehr ähnlich, nämlich relativ schnell neue Dinge zu rekombinieren, diese auszuprobieren und dann wieder zu lassen. Heute hat man es mit Produkten und Dienstleistungen zu tun, die sich in der Praxis noch verändern. Daher kommt auch der schöne Begriff des Updates. Das gilt wahrscheinlich auch für Lebensformen.

TiB: Ein Update beispielsweise beim Bau einer Autobahnbrücke ist doch eher abschreckend. Wie sollen wir alle, und Unternehmen im Speziellen, damit umgehen, und wie sehen Sie die Aufgabe des Staates?

Nassehi: Man müsste bei Projekten eine Art Generalunternehmer haben, der einen längeren Zyklus im Blick hat. Ich glaube aber, dass dies in diesen Ökonomien und Techniken fast nicht mehr möglich ist. Und in der Unternehmenskultur müssen Sie die Abteilung mit den langen Hosen und die mit den kurzen Hosen zusammenbringen. Wenn sich die Gesellschaft auf diese neuen Technologien und die neuen Arten von Arbeit einlässt, dann müssen wir von diesen Kontinuitätsbegriffen weg; und dass die Veränderung in den Berufsverläufen politisch moderiert werden muss, ist unabdingbar. Auch hier brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Leider denken die politischen Trägergruppen weitgehend noch im alten System und gehen diese Fragen nicht an.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass in Zukunft eher so etwas wie Ausfallbürgschaften vom Staat bezahlt werden, als eine Arbeitslosenversicherung. Hier stellt sich dann die Frage der Sozialpartnerschaft, bei der die Akteure nicht nur eigene Interessen verfolgen.

TiB: Da taucht die Frage der Finanzierung auf. Was halten Sie von der Robotersteuer?

Nassehi: Wir müssen uns im Gegenzug fragen, ob man Unternehmen für etwas besteuern kann, um Leute zu versorgen, die nichts zu ihrem eigenen Mehrwert beitragen. Unabhängig davon, was man davon hält, steht diese Versorgungsfrage im Lastenbuch, aber es mangelt am konzeptuellen Denken.

TiB: Einige Veröffentlichungen bezeichnen die KI als neue Religion. Wie sehen Sie das?

Nassehi: Vielleicht kann man das mit dem Begriff der Übersichtlichkeit fassen. Früher war die Welt geordnet und kalkulierbar: Es gab Gut und Böse und der Teufel saß mit am Tisch und man kannte ihn. Unsere heutige Welt ist intransparent. Viele Konflikte entstehen aus einer Nichterklärbarkeit der Welt. Niemand, der ein Experte ist, bleibt unwidersprochen, und keine Wahrheit wird nicht durch eine andere Wahrheit in Frage gestellt. Für die aktuellen Krisen – z.B. die Finanzkrise – haben wir keine Steuerungsmechanismen. Und in diese Unübersichtlichkeit taucht jetzt eine Technik ein, die Begriffe verwendet, die selbst mit Unübersichtlichkeit arbeiten, wie die Künstliche Intelligenz oder Maschinengehirn. Dass manche Menschen diese Begriffe jetzt mystifizieren, ist kein Wunder. Um mit Max Weber zu sprechen: Wir leben in einer wiederverzauberten Welt. Wir verstehen es nicht, nehmen es aber irgendwie hin.

TiB: Was meinen Sie, wie geht es weiter mit der KI?

Nassehi: Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich das entdramatisieren wird, wenn wir unter KI einen Apparat verstehen, der so sehr eine Blackbox ist, dass wir darauf vertrauen, nicht zu wissen was unter der Oberfläche passiert und trotzdem mit den Ergebnissen umgehen; und dass KI ein Element von allen möglichen Technologien und Dienstleistungen wird. Das Vertrauen in KI wird steigen, weil sie funktioniert und weil sie im Alltag unsichtbar wird und sich gerade deshalb durchsetzt. Das war schon immer der einzige Erfolgsfaktor für Innovation.

Das Interview führten Fritz Münzel und Silvia Stettmayer

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2018 Mai/Juni