Die Informatisierung der Gesellschaft – eine Studie von 1978

Beitrag von Frank Dittmann, Redaktion TiB

Vor fast 40 Jahren führten S. Nora und A. Minc mit der Studie L‘informatisation de la Société den Begriff télématique ein, der Telekommunikation und Informatik verbindet. Bereits damals erkannten die Autoren die Potenziale, aber auch die Gefahren der Informatisierung. Mehr dazu im nachfolgenden Beitrag.

Frankreich Ende der 1970er Jahre

Nach dem Ölpreisschock von 1973 steckte Frankreich in einer wirtschaftlichen Krise. Handelsbilanzdefizite, eine schwache Binnennachfrage und wachsende Arbeitslosigkeit stießen eine gesellschaftliche Debatte an. Gestützt auf viele Arbeitsgruppen verfassten Simon Nora von der Generaldirektion der Finanzen, der obersten staatlichen Kontrollinstanz, und sein Mitarbeiter Alain Minc eine Studie zur Informatisierung der Gesellschaft.

Im Januar 1978 wurde sie dem französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing vorgelegt. Nach dessen Freigabe im Mai 1978 lag sie im Juni gedruckt vor. Bis Ende 1978 betrug die Gesamtauflage fast 100.000 Exemplare. Das Thema wurde in weit über 300, oft mehrseitigen Artikeln breit diskutiert und ging in politische Beschlüsse ein. Die deutsche Ausgabe erschien im März 1979.

Manche Aussage ist durch die Situation in Frankreich bestimmt. So erschien IBM als Angstgegner und anders als in der Bundesrepublik pendelte die französische Debatte um die Pole nationaler vs. internationaler Markt. Spezifisch ist auch, dass die Änderung der administrativen Zuordnung von Telekommunikationsorganisationen nach Wahlen bzw. Kabinettsumbildungen langfristige Planungen erschwerten.

Die Studie empfahl der französischen Regierung eine forcierte „Informatisierung“. So sollten CAD-Projekte sowie solche zum elektronischen Zahlungsverkehr, für medizinische Ferndiagnose und -überwachung, zur Automation von Produktionsprozessen, zur Verbesserung der Büroarbeit oder zur Entwicklung eigener Datenbanken mit offenem Zugang für alle Bürger gefördert werden. Die Industrie müsse die notwendige Hardware bereitstellen und ein Programm zur Einführung der Informatik an Oberschulen und Universitäten das nötige Wissen vermitteln. Entscheidend für eine neue Wirtschaftsdynamik sei die Vernetzung kleiner, dezentraler Datenverarbeitungsanlagen.

Entstehung der Telematik

Technologisch setzte man dabei auf Fernmeldesatelliten: „Die Informatik ‚explodiert‘. Eine unendliche Vielzahl kleiner Maschinen tritt auf, die leistungsfähig und billig sind… Einer bisher Eliten vorbehaltenen Technik folgt eine Massenaktivität… Zur gleichen Zeit entsteht die Telematik aus der ‚Ehe‘ zwischen Computern und Übertragungsnetzen. Diese Konvergenz der Technologien wird in allernächster Zukunft ihren Höhepunkt mit dem Auftauchen von Universalsatelliten zur Übertragung von Bild, Ton und Daten erreichen“ (S. 35).

Kostensenkung und Dezentralisierung würden dann die Gesellschaft revolutionieren: „Die Möglichkeit, Bedürfnisse einer Vielzahl von Nutzern zu Preisen zu befriedigen, die mit deren finanziellen Ressourcen vereinbar sind, läßt das Universum der Informatik grenzenlos wachsen. [So] … öffnet sich dieses Universum Hunderttausenden von möglichen Benutzern, kleinen und mittleren Unternehmen, Freiberuflern, privaten Haushalten“ (S. 39). [sic!]

Vision einer digitalen Gesellschaft

Damit befördere die Telematik also einen tiefgreifenden sozialen Wandel. So würden dezentrale, intelligente Terminals den Zugriff auf Informationen erleichtern. Zugleich würden aber neue Herausforderungen bezüglich „Freiheitsrechte und Transparenz“ (Datenschutz) sowie „Verletzlichkeit“ (Computerkriminalität) entstehen. Der Staat müsse deshalb die neue Technik aktiv mitgestalten. Zugleich beschwört die Studie den Verlust nationaler Eigenständigkeit: „Anderen, d. h. amerikanischen Datenbanken, die Organisation dieses ‚kollektiven Gedächtnisses‘ zu überlassen, und sich damit zu begnügen, daraus zu schöpfen, ist gleichbedeutend mit der Hinnahme einer kulturellen Entfremdung“ (S. 83.f.).

Potenziale und Gefahren der Informatisierung

Auch wenn viele Begriffe noch nicht klar konturiert waren, waren die Autoren durchaus hellsichtig. So sahen sie Potentiale für neue Leistungen, etwa „elektronische Briefpost, Bildschirmnachrichtendienst, Zugang zu Datenbank, elektronische Heimzeitung, Video-Konferenz usw.“ (S. 91), warnten aber auch vor ambivalenten Auswirkungen der Informatisierung auf die Arbeitswelt, wie sie heute diskutiert werden: „Wird die noch verbleibende produktive Resttätigkeit das Joch der Reservearmee ausländischer, eingewanderter Unterproletarier und das Privileg einiger Neurotiker sein…?… Oder wird die Arbeit vielmehr auf immer größere Bevölkerungsteile aufgeteilt, die einer Hauptbeschäftigung zur Sicherung des Lebensstandards, der beruflichen Stellung und des sozialen Besitzstandes nachgehen und sich daneben vielfältigen Beschäftigungen widmen in einem Produktionskontext außerhalb des herkömmlichen Wirtschaftskreislaufes, zur Befriedigung des Spieltriebs oder allein zur Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen?“ (S. 120).

Selbst einen weitreichenden Medienwandel hatten die Autoren bereits im Blick: „Als die Sumerer ihre ersten Hieroglyphen auf Wachstafeln schrieben, erlebten sie … einen entscheidenden Einschnitt in die Entwicklung der Menschheit: das Auftreten von Schrift…. Heute kündigt die Informatik vielleicht ein vergleichbares Phänomen an“ (S. 121). So gesehen ist die hier vorgestellte Studie auch nach fast 40 Jahren überraschend aktuell.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2017 Januar/Februar