Hellerau – Einheit von Wohn- und Arbeitsstätte

Die bekannteste Gartenstadt Deutschlands

Beitrag von Dr. Sebastian Kasper, Deutsches Museum München

Die Frage nach dem räumlichen Verhältnis zwischen Arbeitsplatz und Wohnort wurde historisch immer wieder unter veränderten Bedingungen gestellt. Ein Umdenken in der Stadtplanung führte zur Idee der Gartenstädte: die bekannteste Gartenstadt in Deutschland ist Hellerau, die Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurde. Wie es dazu kam und warum das Konzept Hellerau trotz seines Scheiterns auch heute noch lehrreich für Diskussionen ist.

Modernisierung der Stadtarchitektur

Die Idee, Wohnviertel, Gewerbegebiete und Kultur- und Konsumbereiche räumlich relativ strikt voneinander zu trennen und durch ein breit ausgebautes Straßensystem zu verbinden, war eine Reaktion auf die davor engen, zunehmend überbevölkerten Innenstädte und die oft katastrophalen Zustände in den sich direkt bei den Industrien befindenden Arbeitervierteln.

Vor diesem Hintergrund formulierten 1933 auf dem IV. Internationalen Kongresse für neues Bauen mehrere führende Stadtplaner und Architekten ihren Anspruch einer moderneren Stadtarchitektur. Die damals beschlossenen Grundsätze, die unter dem Namen Charta von Athen bekannt wurden, setzten sich in Deutschland beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und den Jahrzehnten danach weitestgehend durch und bestimmen bis heute das städtische Leben.

Stau als tägliche Realität

Heute führt der Weg zur Arbeit in städtischen Ballungsräumen immer öfter von einem Stau in den anderen. Für viele Berufspendler ist der Verkehrsinfarkt alltägliche Realität – ein Zustand, der durch das stetige Wachstum der Städte noch schlimmer zu werden droht. Auch das erhöhte ökologische Bewusstsein, die Angst vor der Feinstaubbelastung, und der weitverbreitete Wunsch nach urbanem Flair führen dazu, dass das bis heute viele Städte prägende Leitbild der autogerechten Stadt immer stärkere Risse bekommt.

Die Gartenstadt als alternative Stadt-Utopie?

Gründung von Hellerau

Aufgrund der sich transformierenden Wirtschaftsstruktur, ökologischer Probleme und sich verändernder Lebensgewohnheiten wird der Wunsch nach einem Umdenken in der Stadtplanung immer drängender. Hier lohnt ein Blick auf die Idee der Gartenstädte. Ihren Ursprung hatte diese städtebauliche Utopie in sozialreformerischen Kreisen im England des 19. Jahrhunderts.

Die bekannteste Gartenstadt Deutschlands ist das 1909 in der Nähe von Dresden gegründete Hellerau. Der Möbelfabrikant Karl Schmidt versuchte hier seine Vision einer Einheit von Wohnen und Arbeit, Kultur und Bildung zu verwirklichen. Im Rahmen des Neubaus der Produktionsstätte seines Unternehmens Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst – später Deutsche Werkstätten Hellerau – ließ Schmid in Zusammenarbeit mit namhaften Architekten wie Richard Riemerschmid, Heinrich Tessenow und Hermann Muthesius innerhalb weniger Jahre neben den Wohnungen für ca. 2000 Personen unter anderem auch Werkstätten, eine Ladenpassage, einen Marktplatz und ein Festspielhaus bauen.

Anders als bei anderen Arbeitersiedlungen war Hellerau als gemeinnützige, lebenswerte und größtenteils eigenständige Stadt geplant, die ein ganzheitliches Leben ermöglichen sollte. Wichtige Mittel dabei waren eine lockere, naturnahe und dezentrale Bebauung, Partizipationsmöglichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner und die genossenschaftliche Verwaltung der Wohnungen und Grundstücke.

Glückliche Anfangsjahre und baldige Krise

Die ersten Jahre war Hellerau Treffpunkt von Intellektuellen, Keimzelle neuer pädagogischer Ansätze, architektonisches Vorzeigeprojekt, Experimentierfeld des modernen Theaters und Produktionsort einer neuartigen Verquickung von maschineller Fabrikation und handwerklichen Qualität- und Designanspruchs. Aber schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges erlahmte der utopische Elan des Siedlungsprojekts.

1914 starb der für das kulturelle Leben Helleraus maßgeblich verantwortliche Reformpädagoge Wolf Dohrn bei einem Skiunfall und im selben Jahr musste Émile Jaques-Dalcroze, der Begründer der rhythmisch-musikalischen Erziehung, aufgrund seiner öffentlichen Kritik an der deutschen Kriegsführung seine Arbeit in der Gartenstadt einstellen. Aber vor allem die bekanntgewordenen finanziellen Schwierigkeiten führten dazu, dass das Projekt seine Ausstrahlkraft verlor.

Ökonomischer und technischer Wandel

Auch wenn das sozialreformerische Konzept Helleraus scheiterte, ist es für heutige Diskussionen lehrreich, verdeutlicht es doch, dass der Städtebau meistens von einer gesamtgesellschaftlichen Vision getragen wird. Es zeigt jedoch auch, dass Stadtkonzepte trotz ihres utopischen Charakters stark von den ökonomischen und technischen Möglichkeiten beeinflusst sind. Die Vorstellung eines harmonischen Kleinstadtkonzepts in Hellerau hing eng mit dem noch teilweise handwerklichen und nach heutigen Maßstäben mittelständischen Betrieb ihres Gründers Schmidt zusammen.

Genauso bedurfte es den spezifischen Voraussetzungen des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg, um der funktional getrennten Stadt der Charta von Athen in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen. Die Entstehung riesiger Fabrikkomplexe mit tausenden Angestellten – so beschäftigte beispielsweise allein das Opelwerk in Rüsselsheim zeitweise über 40.000 Menschen – machte eine direkte Ansiedelung der Arbeiterinnen und Arbeiter bei den Produktionsstätten immer problematischer.

Gleichzeitig ermöglichte die massenhafte Verbreitung des Automobils längere Anfahrtswege zum Arbeitsplatz und der steigende Wohlstand ließ auch Angestellte vom Häuschen im Grünen träumen.

Die Landflucht hält an

Durch den wirtschaftlichen Strukturwandel der letzten Jahrzehnte, der unter anderem zu einer partiellen Deindustrialisierung und einem Bedeutungszuwachs des Dienstleistungssektors geführt hat, könnten sich wieder neue Stadtkonzepte durchsetzen.

Wie schwer es jedoch ist, von technischen Entwicklungen auf soziale Prozesse zu schließen, zeigt die bisher vergebliche Hoffnung, dass die digitalisierte Arbeitswelt den Prozess der Landflucht verlangsamen oder gar umkehren würde. Ob also Konzepte einer funktionalen Verbindung von Wohn- und Arbeitsstätte wie in der Gartenstadt aktuell wieder neue Anziehungskraft entwickeln können, wird sich erst noch zeigen müssen.

Lesetipps

  • Galonska, Clemens/Elstner, Frank: Gartenstadt Hellerau, Chemnitz 2007.
  • Kampffmeyer, Hans: Wohnstätte und Arbeitsstätte, Stuttgart 1932.
  • Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hg.): Gartenstadt 21, Band 1. Die Entwicklung der Gartenstadt und ihre heutige Relevanz, Bonn 2017

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Januar/Februar