Moderne Netzwerktechnik

Höhere Kapazität bei hoher Sicherheit

Beitrag von 

Dipl.-Ing. Johannes Wegele, Referent, Komponentenerprobung Aerodynamik und Klimatechnik, DB Systemtechnik GmbH, München

Dr.-Ing. Christian Wilmes, Leiter Prüfung EMV/EMF, ETCS, DB Systemtechnik GmbH, München

Dipl.-Ing. Lutz Friedrich, Leiter Engineering zur ETCS Flottenausrüstung, DB Systemtechnik GmbH, Köln

Der Deutschen Bahn wurden ehrgeizige politische Ziele gesteckt: Sie soll die Fahrgastzahlen verdoppeln und ihren Marktanteil im Güterverkehr auf 25 Prozent ausbauen.

Eine Reihe von Maßnahmen wie Digitalisierung und Automatisierung sollen helfen, zusätzliche Kapazitäten zu erschließen. Die Grundlage bilden europaweit genutzte Systeme: das Verkehrsmanagement durch das European Rail Traffic Management System (ERTMS), die Zugbeeinflussung durch das European Train Control System (ETCS) und auch der auf 5G-Technologie basierende Bahnfunk der Zukunft, das Future Rail Mobile Communication System (FRMCS). An der Standardisierung der Systeme in Europa arbeiten Fachleute bereits seit den 1990er Jahren. Eine Reihe von Spezifikationen und Standards ist seither entstanden; leider ist deren Kompatibilität [1] aber nicht durchgängig gegeben. Immer wieder muss daher im Einzelfall festgestellt werden, welches Rollmaterial mit welcher Systemausstattung auf welcher Strecke fahren darf, hier besteht also noch Verbesserungsbedarf.

Deutsche Strecken sind Teile von Europa

Die Europäische Union fördert die Ausrüstung von insgesamt neun europäischen Hauptkorridoren mit ETCS, vier davon passieren das deutsche Netz. Für die transeuropäische Durchleitung der bis zu 740 m langen Güterzüge ist die einheitliche Technik von großem Nutzen. Die Umrüstung dieser und weiterer Gleisabschnitte und Stellwerke auf eine neue Leit- und Sicherungstechnik (LST) ist oft schlicht die dringend notwendige technische Erneuerung der obsoleten Stellwerkstechnik. Sie wird ersetzt durch moderne Netzwerktechnik, welche die Überwachung und Steuerung des Betriebs maßgeblich erleichtert. Im Starterpaket hat die DB Netz den Korridor ScanMed, also den deutschen Teil der Strecke von Skandinavien über Hamburg, Nürnberg und München zum Mittelmeer [2], für die Neuausrüstung ausgewählt und folgt damit Dänemark, wo die Ausrüstung gerade abgeschlossen wird.

Die Hoheit über die Fahrstraße, also Signale, Weichen, Bahnübergänge und Streckengeschwindigkeit, liegt dabei bei der Infrastruktur und ihren Vertretern, den Fahrdienstleiterinnen und Fahrdienstleitern. Bis hier gilt also der Grundsatz „Infrastruktur überwacht Fahrzeug“! Darauf aufbauend können Aufgaben der Triebfahrzeugführerinnen (Tf) – Lokführer in der Fachsprache – automatisiert werden, man spricht von ATO over ETCS (Automatic Train Operation).

Die Tf tragen nämlich die Verantwortung beispielsweise für das Öffnen und Schließen der Türen beim Fahrgastwechsel und für die ständige Einhaltung der Geschwindigkeit. Der Grund für diese Arbeitsteilung ist so trivial wie sicherheitsrelevant: Die Tfs können die langen Bremswege ihrer Fahrzeuge meist nicht überblicken; sie sind deshalb auf externe Unterstützung angewiesen.

Geschwindigkeit und hohe Dichte erfordern Informationstechnik

Im Interesse der Sicherheit werden Entscheidungen und deren Übertragung zudem stets abgesichert, zum Beispiel indem sich Fahrdienstleiterin und Fahrzeugführerin in einem Funkspruch gegenseitig identifizieren, ihre Botschaften wiederholen und mit einem Übermittlungscode quittieren. Kritische Parameter wie die Geschwindigkeit oder die Vollständigkeit eines Zuges werden zusätzlich an wichtigen Punkten der Infrastruktur streckenseitig überwacht. Bei Geschwindigkeitsüberschreitung löst die Infrastruktur im Fahrzeug ohne Zutun des Zugpersonals eine Schnellbremsung aus – man spricht hier von punktförmiger Zugbeeinflussung. Für höhere Geschwindigkeiten im Fernverkehr und hohe Taktungen im Nahverkehr wurde punktförmige Zugbeeinflussung zu einer dauerhaften Beeinflussung weiterentwickelt. Auf der Schnellfahrstrecke zwischen Nürnberg und Erfurt beispielsweise funktioniert das bereits nach ETCS Level 2: Optische Signale entfallen, Kommandos werden über Balisen – die gelbe Baken im Gleisbett – und Funk übermittelt und den Tfs auf einem Display im Führerstand angezeigt. Eine Strecke bleibt dabei jedoch zur Wahrung des Sicherheitsabstands zwischen zwei Zügen statisch in sog. Blockabschnitte unterteilt, in die ein Zug einfahren darf – oder eben nicht.

Mit ETCS Level 3 wird es im nächsten Schritt möglich, die Abstände zwischen einzelnen Zügen je nach Geschwindigkeit dynamisch anzupassen und den sogenannten relativen Bremswegabstand zu berücksichtigen – etwa vergleichbar dem Sicherheitsabstand im Straßenverkehr. Die Herausforderung: Es muss nicht nur jeder Zug jederzeit zuverlässig erreichbar sein, um rechtzeitig abzubremsen; es muss auch jederzeit die Position jedes Zuges bekannt sein und durchgängig sichergestellt werden, dass der Zug vollständig ist, also keine Wagen zurückgelassen hat. Inkrementalgeber an Radsatzwellen, sogenannte Odometer, und andere Sensoren und Systeme, die seit langem zur Ausstattung von Schienenfahrzeugen gehören, werden damit zu sicherheitsrelevanten Systemen. Bei diesem Niveau der Automatisierung kommt die Überwachung der Integrität des Zuges hinzu, die unvorhergesehene Zugtrennungen festzustellt. Denn der Blick der Tf ist nach vorne gerichtet, sie können das Fehlen einzelner Wagen, insbesondere bei langen Güterzügen, kaum bemerken. Die klassischen Achszähler, die am Gleis montiert punktuell die Achsenanzahl der Züge registrieren und abgleichen, sind mit der Dynamik bei ETCS L3 nicht vereinbar. Darum sind fahrzeugseitige Überwachungs- und Perzeptionssysteme bei ETCS Level 3 elementar. Bei Zulassung und Funktionstests ist größte Sorgfalt erforderlich.

Das ETCS-Labor

Die DB Systemtechnik GmbH untersucht in ihrem ETCS Labor das Zusammenspiel verschiedener ETCS-Versionen und nationaler „Dialekte“ sowie Zug- und Infrastrukturkomponenten verschiedener Hersteller. Gleichzeitig arbeitet die DB mit der ÖBB, SBB und weiteren Infrastrukturbetreibern an offenen Spezifikationen, wie der auf Github veröffentlichten fahrzeugseitigen Referenzarchitektur OCORA [3], um auf Systemausrüster im Sinne der Interoperabilität und gewinnbringender Skaleneffekte [4] einzuwirken.

Dass Software und ERTMS-Funktionen für eine neu ausgerüstete Strecke schon vor der Installation auf das Zielsystem durch Testfahrten auf einer Referenzstrecke validiert werden können, wurde jüngst auf einer eingleisigen Strecke bei Annaberg-Buchholz im Erzgebirge nachgewiesen. Teams des Konzernprogramms „Digitale Schiene Deutschland“ und die DB Netz stellten die Versuchsfahrten für den Ende-zu-Ende-Test auf die Beine [5]. Die DB Systemtechnik unterstützte bei der praktischen Umsetzung. Damit wird es möglich, Zulassungsverfahren für eine neue Streckenausrüstung auf Labor-Strecken-Umgebungen zu verlagern. Auf eben dieser Strecke wird mit internen und externen Partnern auch automatisches Fahren unter 5G-Funktechnik erprobt [6].

Die Standardisierung des ERTMS begann in den 90er-Jahren und wird oft als langwieriger und zäher Prozess wahrgenommen. Jedoch erfreut sich die Technik, das Ergebnis der inner-europäischen Verständigung, mittlerweile in über 60 Ländern einer wachsenden Akzeptanz als Referenzarchitektur für Leit- und Sicherungstechnik. Dazu tragen auch europäische Hersteller wie Alstom, Siemens oder Thales mit ihrer weltweiten Vermarktung bei. Erst kürzlich konnte die DB Systemtechnik südkoreanische Ingenieure in ihren Schulungsräumen zum Thema ERTMS willkommen heißen.

Als einer der nächsten Schritte für einen zukunftsfähigen Bahnbetrieb steht der Roll-out des künftigen, 5G-basierten Bahnfunks FRMCS (Future Railway Mobile Communication System, dem Nachfolger des heutigen GSM-R Funksystems für die Zugkommunikation) ins Haus. Wie auch beim öffentlichen 5G Mobilfunknetz profitiert das Bahnnetz von der hohen Datenkapazität und der geringen Latenzzeit dieses Standards, Eigenschaften, die für die dynamische Abstandsregelung unter ETCS Level 3 Voraussetzung sind. Eigene Frequenzbereiche schaffen Unabhängigkeit vom öffentlichen Netz. Wo nötig, ist jedoch zur effizienten Nutzung von Ressourcen eine Mischtopologie mit priorisiertem Datentransfer in öffentlichen Netzen vorgesehen.

Literatur

[1] European Union Agency for Railways (ERA), „Backwards and forwards compatibility of ETCS baselines,“ [Online]. Available: www.era.europa.eu/content/backwards-and-forwards-compatibility-etcs-baselines. [Zugriff am 5. 11. 2023].

[2] DB Netz, „Digitale Schiene Deutschland #Starterpaket,“ [Online]. Available: digitale-schiene-deutschland.de de/projekte/Starterpaket. [Zugriff am 7. 11. 2022].

[3] OCORA Arbeitsgruppe, „OCORA Projekt & Repo on Github,“ 2019. [Online]. Available: github.com/OCORA-Public/ Publications. [Zugriff am 5 11 2023].

[4] Verband der Bahnindustrie (VDB), „VDB-Positionspapiere,“ 07. 2021. [Online]. Available: bahnindustrie. info/fileadmin/Leitfaeden_DE/210805_ VDB-Fachinfo_Innovationsinitiativen_ ETCS-OBU.pdf. [Zugriff am 05. 11. 2023].

[5] B. Holfeld, S. Biemond, L. Garcia und S. Mehira, „Innovative Antennentechnologien für FRMCS – Feldstudie bei 1,9 GHz,“ SIGNAL+DRAHT, pp. 6.-14. 11. 2022.

[6] Digitale Schiene Deutschland, „5G Testfeld im Erzgebirge,“ [Online]. Available: digitale-schiene-deutschland. de/5G-Testfeld-im-Erzgebirge. [Zugriff am 5. 11. 2023].

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 01/2024 JAN/FEB

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