Kommt ein neues Bahnzeitalter?

Beitrag von Dipl.-Ing. Norbert Moy, Fahrgastverband PRO BAHN e.V

Eigentlich verwundert es schon: Die erste öffentliche Eisenbahn in Deutschland wurde nicht in den Bergbauregionen an der Ruhr oder in Oberschlesien eröffnet, sondern ausgerechnet im Agrarland Bayern. In diesem Bericht geht es um den Wandel der Bahnbranche seit der Bahnreform und aktuelle Herausforderungen. Zudem wird ein Appell an den Güterverkehr ausgesprochen, da bei diesem ein enormer Nachholbedarf besteht.

Die erste Lokomotivfabrik in München

Am 7.12.1835 fuhr der erste – samt Personal aus England importierte – Zug von Nürnberg nach Fürth. Und schon drei Jahre später gründete der Münchner Tabakhändler Joseph Anton von Maffei die erste Lokomotivfabrik in München. Mit unternehmerischer Weitsicht erkannte er das Potenzial des neuen Verkehrsmittels für Handel und Wirtschaft und dachte dabei über das eigene Geschäft mit Lokomotiven weit hinaus: Auch politisch schob er an beim Ausbau des Schienennetzes in Bayern trotz mancher Widerstände: König Ludwig I war nicht gerade ein Verfechter der Eisenbahn.

Historie der Eisenbahn

Die Eisenbahn war fortan der Treiber in Technik und Gesellschaft: Das Eisenbahnwesen setzte eine einheitliche Uhrzeit durch, allein aus dem praktischen Grund der Fahrplanerstellung, nationale Hemmnisse und Kleinstaaterei lösten sich auf durch die neue Mobilität. Die moderne Betriebsfestigkeitslehre begründete August Wöhler mit seinen Untersuchungen an den Schäden von Radsatzwellen. „Dauerfest“ ist bis heute ein Synonym für die Haltbarkeit (nicht nur) von Schienenfahrzeugen. Die Liste der technischen und kulturellen Leistungen der Eisenbahn ließe sich noch weiter fortsetzen.

Aktuelle Herausforderungen

Und knapp 200 Jahre nach der ersten Eisenbahn – kann der Schienenverkehr eine Antwort auf die aktuellen Herausforderungen geben? Europa steckt längst in einem Verkehrskollaps fest, der nach effizienten und intelligenten Strukturen verlangt. Die weit größere Herausforderung ist aber Schutz des Klimas und der natürlichen Ressourcen. Deutschland ist gerade dabei, die selbstgesteckten Ziele bei der CO₂ -Reduktion krachend zu verfehlen.

Während Haushalte, Industrie und Energieerzeuger für einen positiven Trend sorgten, sticht der Verkehrssektor beim Klimaschutz negativ heraus: Seit 1990 sind die Emissionen sogar leicht angestiegen. Fachleute sind sich einig, dass die gesetzten Klimaziele nur erreicht werden können, wenn signifikante Verkehrsanteile im Güter- und Personenverkehr auf die Schiene gebracht werden.

Das Rad-Schiene-System ist energieeffizient und kann Transporte großer Mengen „smart“ organisieren und abwickeln. Die elektrische Antriebstechnik ist auf der Schiene längst ausgereift, etwa 75 Prozent der Betriebsleistung in Deutschland wird elektrisch gefahren. Stehen die Zeichen der Zeit also für ein neues Eisenbahn-Zeitalter?

25 Jahre Bahnreform

In diesem Jahr wird die Bahnreform 25 Jahre alt. Hatten sich in der Vergangenheit Politik und Deutsche Bahn AG gegenseitig über den Erfolg dieser Reform noch auf die Schulter geklopft, sind die Beteiligten jetzt kleinlaut geworden.

Heute wird klar, dass längst nicht alle großspurigen Ziele erreicht wurden: Der DB-AG-Konzern – mittlerweile wieder hoch verschuldet – kämpft mit Qualitätsproblemen im Fernverkehr, sein Anteil am Güterverkehrsmarkt sinkt stetig und auch im Schienenpersonennahverkehrs (SPNV)-Markt bekommt er den Wettbewerb zu spüren. Die Infrastruktur, die ihm der Eigentümer Bundesrepublik Deutschland anvertraut hat, hat der Konzern sträflich auf Verschleiß gefahren und zurückgebaut, eine langfristige Perspektive für „mehr Verkehr auf die Schiene“ war lange nicht zu erkennen.

Immerhin ist das Thema 2018 bei der Großen Koalition angekommen, die sich folgendes ambitioniertes Ziel gesetzt hat: „Mit einem Schienenpakt von Politik und Wirtschaft wollen wir bis 2030 doppelt so viele Bahnkundinnen und Bahnkunden gewinnen und dabei unter anderem mehr Güterverkehr auf die umweltfreundliche Schiene verlagern.“

Wird daraus nun die notwendige Aufbruchsmentalität in der Bahnbranche wie vor 180 Jahren? Oder gibt es weiterhin nur Sonntagsreden „pro Bahn“ und am Montag wird weiter an der Straße gebaut? Sollte das Ziel nur annähernd ernst gemeint sein, fordert es massive Anstrengungen zur Modernisierung der Infrastruktur, aber auch ein klares Bekenntnis der Politik und der Gesellschaft zum Ausbau des Schienenverkehrs.

Studie zum Deutschlandtakt

Immerhin hat das Bundesverkehrsministerium vor kurzem eine Studie zum Deutschlandtakt veröffentlicht, eine erste Voraussetzung, um den Schienenverkehr zu stärken. Integrale Taktfahrpläne im SPNV zählen auch zu den (wenigen) Erfolgsgeschichten der Bahnreform. So hat der Freistaat Bayern mit den Regionalisierungsmitteln des Bundes die Zugkilometer um knapp die Hälfte erhöht, die Nachfrage bei den Fahrgästen aber um 73 Prozent gesteigert. Klare Verantwortlichkeiten und das Bestellerprinzip haben für mehr Schienenverkehr gesorgt, ohne wesentlich mehr Geld ausgeben zu müssen. Der Deutschlandtakt könnte nun in ähnlicher Weise auch den Fern- und Nahverkehr zu einem System optimieren.

Zukünftige Antriebstechniken

Auch wenn der Dieselverbrauch der Eisenbahnen kaum ins Gewicht fällt: Das fossile Zeitalter neigt sich auch hier dem Ende zu. Wohin führt der weitere Weg? Ist die Vollelektrifizierung auch auf Zweigstrecken der sinnvolle Weg oder bieten innovative Antriebstechniken eine Alternative? Hier ist die Entwicklung gerade in vollem Gang. Entscheidend wird sein, ob und wie die öffentliche Hand die Verantwortung für das regionale Schienennetz gestalten will. Die bayerische Eisenbahngesellschaft als Aufgabenträger für den Nahverkehr setzt hier mit einer Untersuchung an und hat auch schon erste Projekte definiert.

Grundlegender Wandel in der Bahnbranche

Die Bahnbranche hat sich seit der Bahnreform grundlegend gewandelt: Im Güterverkehr dominieren längst nicht mehr nur die großen Staatsbahnen, allein in Deutschland stehen an die 300 Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVUs) im Wettbewerb, die ihren Frachtkunden internationale Verkehre aus einer Hand anbieten wollen.

Sie benötigen eine Lokomotive „von der Stange“, die aber nicht nur die notwendigen Stromsysteme und Zugsicherungssysteme für den gewünschten Länderkorridor eingebaut hat, sondern auch noch die Länderzulassungen aufweist und kurzfristig verfügbar ist.

Wie ein solches Plattformkonzept für eine europäische Lok aussieht, beschreibt der Beitrag von Matthias Mayer über die Vectron-Lok aus dem Siemens-Lokwerk in München-Allach.

Großer Nachholbedarf im Güterverkehr und Bahnreform 2.0

Gerade der Güterverkehr hat aber noch massiven technischen Nachholbedarf. Ein Güterwagen ist immer noch ein dummes und lautes Stück Stahl, das sich bislang allen Versuchungen der digitalisierten Welt widersetzt hat. Selbst das Kuppeln der Güterwagen erfolgt in Europa noch manuell mit der Schraubenkupplung, weil sich die Länder nie auf eine Umrüstung auf automatische Kupplungen einigen konnten. Aber nicht nur deshalb hat der Einzelwagenverkehr so an Bedeutung verloren. Die Eisenbahnen müssen im Wettbewerb mit Fuhrunternehmen arbeiten, die ihre Kosten zulasten der Beschäftigten oder der Allgemeinheit optimiert haben.

Die Eisenbahnen haben also nicht nur das Zeug für eine technische Evolution, sie ist vielmehr dringend geboten. Eine Bahnreform 2.0 muss gerechte Marktbedingungen für alle Verkehrsträger sicherstellen und endlich die Verantwortung für die Infrastruktur klar regeln. An technischen Lösungen wird es nicht fehlen, wie die Beiträge in diesem Heft belegen. Die Umsetzung muss angegangen werden. Dazu muss sich auch in den Köpfen etwas ändern: Die Kultur der Bedenken- und Besitzstandsträger muss sich wandeln hin zu einer Kultur, die den Wandel ermöglicht.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Juli/August