Mehrsystemfahrzeuge

Voraussetzung für den länderübergreifenden Schienenverkehr

Beitrag von Matthias Mayer, Siemens AG

Vectron-Lokomotiven sind heute in ganz Europa anzutreffen. Ihr Einsatzgebiet reicht vom Nordmeer bis ans Mittelmeer und von der Nordsee bis ans Schwarze Meer. Mit der Lokomotivplattform Vectron hat Siemens Mobility mit über 900 an 43 unterschiedliche Kunden in 16 Ländern verkauften Lokomotiven sich an die Spitze der europäischen Lokomotivbauer heraufgearbeitet. Das war natürlich kein glücklicher Zufall, sondern das Ergebnis einer konsequenten Analyse und Auswertung der Marktanforderungen, eines durchdachten technischen Konzepts, das für jeden Kunden schnell eine individuelle Lösung für seine Transportaufgaben bereithält. Aber wie hat sich das eigentlich alles entwickelt?

Die deutsche Schienenfahrzeugindustrie damals

Werfen wir dazu einen Blick auf die Situation in der deutschen Schienenfahrzeugindustrie in den 1990er Jahren. Es war in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit üblich, dass neue Schienenfahrzeuge federführend von der Deutschen Bundesbahn, vertreten durch die Zentralämter München und Minden, projektiert und entwickelt wurden und die Schienenfahrzeugindustrie die Entwicklung und Konstruktion wesentlicher Komponenten und den Bau und die Inbetriebsetzung der Fahrzeuge übernahm.

Die Deutsche Bundesbahn, als die Staatsbahn der Bundesrepublik, war seit 1949 nahezu ausschließlich für den gesamten Eisenbahnverkehr zuständig, einen „Wettbewerb“ auf der Schiene gab es nicht.

Neuordnung der Eisenbahnwelt in Europa

Bereits Ende der 1980er-Jahre zeichnete sich aber eine vollständige Neuordnung der europäischen Eisenbahnwelt ab:
Nach dem Willen der Europäischen Union sollten die (überwiegend staatlichen) Eisenbahnen an die Marktordnung der anderen Verkehrsträger (Straße, Flugverkehr, Schifffahrt) angepasst werden, d. h. Infrastruktur und Betrieb sollten voneinander getrennt werden und für die hoheitlichen Aufgaben eine eigene Behörde zuständig sein.

Diese neue Ordnung bei den Eisenbahnen wurde ab Anfang der 1990er-Jahre EU-weit eingeführt, in Deutschland zum 1. Januar 1994, was dann zur Gründung der Deutschen Bahn AG führte. Für die Infrastruktur ist seitdem DB Netze zuständig, die organisatorisch zwar im DB AG-Konzern eingebettet ist, aber rechtlich eine eigenständige und vom übrigen Konzern unabhängige Organisation ist.  Die hoheitlichen Aufgaben, wie z. B. die Aufsicht über den Eisenbahnbetrieb, die Zulassung neuer Fahrzeuge u. v. a. m., gingen dann auf das neu gegründete Eisenbahn-Bundesamt (EBA) über.

Vorteile und Auswirkungen der neuen Marktordnung

Für das System Eisenbahn hatte die neue Marktordnung mittlerweile doch einige Vorteile zur Folge: Durch den freien Zugang zur Infrastruktur konnten die Bahnen in einigen Bereichen durch den jetzt möglichen Wettbewerb ihre Marktpositionen erhalten und auch ausbauen.

Die Änderung der Marktordnung im Schienenverkehr hatte natürlich auch vielfältige Auswirkungen auf die Anforderungen an neue Schienenfahrzeuge. Viele Betreiber konnten und wollten sich eine langjährige und kostenintensive Entwicklung neuer Schienenfahrzeuge nicht mehr leisten. Für die Schienenfahrzeugindustrie erwuchsen dadurch neue Aufgaben: Fahrzeugentwicklungen, die früher unter der Leitung der technischen Organisationen der Staatsbahnen entstanden, sollten nun aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln realisiert werden. Das Know-how in Projektmanagement, das Erreichen der hoheitlichen Zulassung, aber auch instandhaltungsgerechte Projektierung und Konstruktion waren auf einmal Aufgabe der Fahrzeughersteller.

War die europäische Schienenfahrzeugindustrie in den 1980er-Jahren noch durch eine Vielzahl mittelständischer Unternehmen geprägt, begann Anfang der 1990er Jahre die Schaffung der „Systemhäuser“. Dabei gingen der größte Teil der mittelständischen Unternehmen in den großen Konzernen, die traditionell über „Bahnabteilungen“ verfügten, auf.

Unterschiedliche Techniken bei der Entwicklung neuer Schienenfahrzeuge

Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren wesentlichen technischen Aspekt bei der Entwicklung neuer Schienenfahrzeuge für Europa: Die Verwaltungen der früheren Staatsbahnen Europas hatten für die Ausführung der Infrastruktur höchst individuelle Techniken entwickelt. Einheitliche, für alle Bahnen Europas geltende spezifische Regeln und Standards gab es nicht, bzw. nur in sehr geringem Umfang.

So haben wir heute noch vier wesentlich unterschiedliche Stromversorgungssysteme bei den Eisenbahnen Europas:

  • Einphasenwechselspannung 15 kV, 16 2/3 Hz,
  • Gleichspannung mit 1500 V und 3000 V
  • sowie Einphasenwechselspannung 25 kV, 50 Hz.

Vielfältige Zugbeeinflussungssysteme

Noch größer als bei den Fahrleitungsspannungen ist die europäische Vielfalt bei den Zugbeeinflussungssystemen, also den Einrichtungen an der Strecke und in den Fahrzeugen, die letztendlich überwachen, ob die Lokomotivführer sich an die Signale halten und die gegebenenfalls den Zug durch eine Zwangsbremsung zum Halten bringen. Hier sind im Laufe der Zeit über 30 unterschiedliche Systeme in Europa entstanden.

Zu Staatsbahnzeiten waren das keine Hindernisse, da in der Regel die Lokomotiven an den Staatsgrenzen ausgetauscht wurden: In Frankreich fuhren französische Lokomotiven und in Deutschland eben nur deutsche Lokomotiven.

Bahnreform führt zu Wandel

Mit der Bahnreform und dem „free access“ zu den nationalen Netzen war das aber nun anders geworden: Ein Güterzug sollte mit einer Lokomotive z. B. von den Niederlanden nach Italien fahren können. In diesem Fall werden drei unterschiedliche Stromversorgungssysteme durchfahren und es werden sechs nationale Zugbeeinflussungssysteme benötigt.

Erst die ab den 1980er-Jahren zur Serienreife gebrachte Drehstrom-Antriebstechnik ermöglichte die Entwicklung kommerziell attraktiver Triebfahrzeuge, die in allen europäischen Stromversorgungssystemen eingesetzt werden können, sodass man diese europäische Herausforderung als gemeistert betrachten kann.

Ausbau des ETCS

Anders aber bei den Zugbeeinflussungssystemen: zwar wurde bereits in den 1990er Jahren ein einheitliches europäisches Konzept entwickelt, jedoch geht der Ausbau des „European Train Control System“ (ETCS) sehr zögerlich vonstatten und ist bei weitem noch nicht europaweit vorhanden. Etwas spitz formuliert kann man sagen, dass ETCS für die kommenden Jahre, möglicherweise auch Jahrzehnte, ein zusätzliches Zugbeeinflussungssystem in Europa sein wird.

Entwicklung einer elektrischen Lokomotive

In der Zeit des sich abzeichnenden Umbruchs beschlossen Krauss-Maffei und Siemens eine elektrische Lokomotive für den mitteleuropäischen Raum in eigener Verantwortung und auf eigene Kosten zu entwickeln. Aus einer Grundbaureihe sollten, ohne die Konstruktion grundsätzlich zu überarbeiten, länderspezifische Varianten abgeleitet werden können, was man als Geburtsstunde des Plattformgedankens im modernen Schienenfahrzeugbau bezeichnen kann.

Von der aus dieser Testlokomotive entwickelten Typenfamilie „EuroSprinter“ entstanden in der Folge fast 1700 elektrische Lokomotiven. Sich ändernde gesetzliche Vorgaben hinsichtlich der technischen Ausführung von Schienenfahrzeugen, die Weiterentwicklung der Technik, die anhaltende Nachfrage, aber auch ein zunehmender Kostendruck veranlassten Siemens ab 2007 sich mit der Weiterentwicklung ihrer Lokomotivplattform zu beschäftigen.

Anforderungen an die neue Lokomotivgeneration

Die Anforderungen des europäischen Marktes an Lokomotiven lassen sich prägnant mit „Flexibilität in jeder Beziehung“ zusammenfassen: Flexibel hinsichtlich der Einsatzbereiche, sowohl geographisch also auch von den Transportaufgaben her. Die neue Lokomotivgeneration sollte für alle vier europäischen Energieversorgungssysteme, unter Berücksichtigung der dazugehörigen Stromabnehmer, geeignet sein.

Alle länderspezifischen Zugbeeinflussungssysteme sowie ETCS sollten vorgesehen werden. Zur Erfüllung der unterschiedlichen Zugförderungsprogramme sind unterschiedliche Höchstgeschwindigkeiten (160/200/230 km/h) und installierte Leistungen (5.200/6.400 kW) sinnvoll. Darüber hinaus war die Einhaltung aller europäischen Vorschriften und Normen obligatorisch. Unverzichtbar sind auch günstigster Energieverbrauch, höchste Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit; Eigenschaften, mit denen nachweislich die Eurosprinter-Familie punkten konnte.

Ein weiteres Entwicklungsziel war auch das Zusammenführen der bislang getrennten Entwicklungslinien für elektrische und Diesellokomotiven (Eurosprinter und Eurorunner) zu einer einheitlichen Konzeption.

Die führte schließlich zu fünf Basisvarianten:

  • Zwei Wechselstrom-Varianten mit jeweils mittlerer und hoher Leistung,
  • einer Mehrsystem-Variante hoher Leistung,
  • einer Gleichstrom-Variante mittlerer Leistung und
  • der Dieselvariante.

Aufbau der Vectron-Lokomotiven

Der Vectron wurde im Juni 2010 im Siemens Prüfcenter Wildenrath der Fachpresse vorgestellt. Bereits 2012 erhielt der Vectron für Deutschland, Polen, Rumänien und Schweden seine „Inbetriebnahmegenehmigung“, in den nachfolgenden Jahren folgten weitere Länder Europas sowie die Türkei. Mit heutigem Stand darf der Vectron in 18 europäischen Ländern eingesetzt werden. Der Innenraum des Vectron wurde vollständig neu konzipiert.

Der Maschinenraum besitzt einen geraden Mittelgang, an dessen Seiten alle Komponenten einen definierten Platz haben. Die Einbauorte der Komponenten gleicher Funktion sind in der Vectron-Familie produktübergreifend einheitlich festgelegt. Die dazugehörigen Befestigungspunkte sind in allen Varianten bereits vorhanden, was Nachrüstungen deutlich vereinfacht.

In einem unter dem Boden verlaufenden Kanal verlaufen die Steuerleitungen und Druckluftrohre, die ohne Ausbau von Gerüsten zugänglich sind. Die Radsätze werden über gefederte Ritzel-Hohlwellen von Drehstrom-Asynchronmotoren angetrieben. Die Drehgestelle werden in bewährter Krauss-Maffei-Tradition und vergleichbar mit den Vorgängerbauarten durch weit nach unten reichende, kräftig konstruierte Drehzapfen mit rechteckigem Querschnitt geführt. Er überträgt alle Kräfte in Längs- und Querrichtung.

Das Gewicht der vierachsigen Lok liegt je nach Version zwischen 80 und 90 Tonnen. Die Wagenkästen sind für den Einbau der UIC-Mittelpufferkupplungen und vergleichbarer Kupplungen in europäischer Höhe vorbereitet. Vectron-Lokomotiven können mit allen in Europa benötigten nationalen Zugbeeinflussungssystemen und ETCS ausgestattet werden.

Optimierungen und Auslegungsprinzip der Fahrzeuge

Im elektrischen Teil unterscheidet sich der Vectron in wesentlich geringerem Maße von seinen Vorgängern als im mechanischen Teil. Der Stand der Leistungselektronik hatte bereits ein so hohes Maß erreicht, dass grundsätzliche Weiterentwicklungen nicht notwendig waren. Die Optimierungen fanden hinsichtlich Herstellkosten und Wirkungsgrad (= Energieverbrauch) statt, wobei als Grundlage für die Entscheidungsfindung unterschiedliche Fahrspiele mit unterschiedlichen Anhängelasten und Höchstgeschwindigkeiten dienten. Hier zeigte sich, dass eine leistungsgesteigerte Variante unter sonst gleichen Randbedingungen ein erstaunlich hohes Energieeinsparungspotential bietet.

Da bei der Beschaffung von Fahrzeugen zunehmend die Life-Cycle-Cost (LCC), die ja auch den Energieverbrauch beinhalten, Berücksichtigung finden, wurde beim Vectron dieses Auslegungsprinzip angewendet. Weiterhin wurde großen Wert auf eine instandhaltungsgerechte Anordnung und Konstruktion gelegt; so können z. B. die IGBT-Module ohne spezielle Hilfseinrichtungen im eingebauten Zustand der Stromrichter getauscht werden.

Antrieb und Ausstattungsoption

Als Antrieb für den Vectron wird ein Ritzelhohlwellenantrieb verwendet. Dieser Antrieb weist wesentlich geringere ungefederte Massen auf als die herkömmlichen, im Güterzugverkehr oft verwendeten Tatzlagerantriebe und ermöglicht somit einen oberbauschonenden Betrieb bei gleichem Kostenniveau.

Als Ausstattungsoption wird ein „Diesel-Power-Modul (DPM) angeboten. Mit diesem Aggregat, das über einen 180 kW Dieselmotor verfügt, kann die sogenannte „letzte Meile“ zurückgelegt werden. Häufig sind Anschlussgleise oder auch Container-Umschlaggleise nicht mit Fahrleitungen ausgestattet, diese können dann auch von einem mit DPM ausgerüsteten Vectron befahren werden, was zusätzliche Diesel-Rangierlokomotiven einspart. Ein DPM ermöglicht einem Vectron eine Zugkraft von 230 kN bereitzustellen.

Akzeptanz am Markt

Die ersten Vectron-Lokomotiven wurden 2012 ausgeliefert und eroberten fortan den Markt, nicht nur im Güterverkehr, sondern auch im Personenverkehr. So bestellten große Betreiber, wie DB Cargo, die Österreichischen Bundesbahnen oder die tschechischen Eisenbahnen Vectron-Lokomotiven im zum Teil dreistelligen Stückzahlbereich.

Auch Lokomotiven-Leasinggesellschaften haben den Vectron im Portfolio (z. B. Alphatrains, ELL, MRCE, Railpool). Damit hat der Markt den Vectron als flexibles und zukunftsorientiertes Produkt akzeptiert und aufgenommen.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Juli/August