Gradientenbeton

Nichts, das fehlt oder zu viel wäre

Beitrag von Ute Latzke in Zusammenarbeit mit dem Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK), Universität Stuttgart

In der Bionik werden vorteilhafte biologische Prinzipien angewandt, um technische Innovationen zu entwickeln. Im nachfolgenden Beitrag wird mit dem Rosenstein-Pavillon ein Exponat aus dem Bereich der Baubionik vorgestellt, das den Mehrwert zeigt, der durch die Verknüpfung der Bionik mit Beton-Architekturen entsteht. Das Exponat konnte im Rahmen einer Sonderausstellung betrachtet werden.

Leuchtturmprojekt Rosenstein-Pavillon

Schon Leonardo da Vinci war fasziniert von den effizienten Erfindungen der Natur, weil er glaubte, dass diese „kein menschlicher Schöpfergeist je übertreffen kann ...“. Heute entwickeln Forscher und Wissenschaftler eine Vielfalt überraschender technischer Lösungen, die der Natur entlehnt scheinen: Bionik heißt diese interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Umsetzung biologischer Prinzipien in Technik beschäftigt. Ein aktuelles Leuchtturmprojekt ist der Rosenstein-Pavillon, einem Exponat der Sonderausstellung „Baubionik – Biologie beflügelt Architektur“ im Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart, die dort im Mai 2018 zu sehen war. Er liefert den Beweis, dass weniger tatsächlich innovativer ist ...

Inspiration aus der Natur

Die Natur, die sich selbst im Lauf von Jahrmilliarden entwickelt, erprobt, durch Selektion angepasst hat und sich immer noch verbessert, macht es uns vor: So inspirierten Kletten mit ihren Häkchen die Erfindung des Klettverschlusses, während die Nanostrukturen von Geckofüßen zur Entwicklung des klebstofffreien Haftens führten. Auch in der architektonischen Forschung finden biologische Strukturprinzipien Beachtung: So dient die Materialverteilung im menschlichen Knochen als Vorbild für die Optimierung der inneren Struktur von Bauteilen; die Stacheln des Seeigels standen Pate für gewichtsminimierte, aber dennoch sehr widerstandsfähige Leichtbauelemente.

Forschungsschwerpunkte des ILEK

Die Entwicklung neuer Tragstrukturen ebenso wie die Optimierung des Bauteilinnenraums ist einer der wissenschaftlichen Schwerpunkte des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart. Das Team rund um den Institutsleiter Werner Sobek spannt seinen Forschungsbogen vom Bauen mit Textilien und Glas über neue Strukturen aus Stahlbeton bis hin zum Ultraleichtbau und adaptiven Systemen. Ob kleines Detail oder Gesamtentwurf: Der Fokus der Forschung liegt stets auf der Optimierung von Form und Konstruktion im Hinblick auf Material- und Energieverbrauch, Dauerhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Rezyklierbarkeit und Umweltverträglichkeit.

Leichter Alleskönner

In der Architektur gilt Beton als massives, leistungsfähiges Material mit großer Gestaltungsvielfalt. Aber es ist auch der weltweit am meisten verwendete Baustoff, der angesichts der wachsenden Weltbevölkerung noch stärker nachgefragt werden wird. Um dem großen Bedarf weiterhin gerecht zu werden, benötigen wir Innovationen, welche die guten statischen Eigenschaften von Beton mit den ressourcenschonenden Techniken des Leichtbaus kombinieren. Möglich wird dies durch die gezielte Manipulation der Dichte des Bauteilinneren in Abhängigkeit von der jeweiligen Belastung. Wie das in der Praxis aussieht, zeigte sich am Rosenstein-Pavillon. Das Konstrukt gehört mit anderen Ausstellungsstücken zu den „leichten Alleskönnern“ und entstammt der Kooperation des ILEK mit dem Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW) und dem Institut für Textil- und Verfahrenstechnik (ITV).

Seine Ansicht verblüfft und verzaubert – so schwerelos, organisch und filigran wirkt das skulpturale Bauwerk, dessen vier Betonstützen sich zudem nach unten extrem verjüngen. Es scheint, als ob ein kleiner Lufthauch ausreichen würde, um den Pavillon davonschweben zu lassen ... Verstärkt wird dieser Eindruck durch die feingliedrige, netzartige Dachstruktur und den daraus resultierenden Lichteinfall in den Bereich unter der Skulptur. Möglich ist diese kühne Konstruktion, die trotz aller Luftigkeit überaus stabil ist und auf soliden Füßen steht, durch die funktionale Gradierung der Porosität.

Funktional gradierte leichte Betonschale

Die funktionale Gradierung ist ein bionisches Optimierungskonzept, das in den 1970er in Form sogenannter Gradientenwerkstoffe auf technische Anwendungen übertragen wurde. Werner Sobek führte dieses Prinzip als erster unter dem Namen Gradientenbeton im Bauwesen ein. Dabei wird die innere Struktur eines Bauteils mit einer unveränderlichen äußeren Geometrie auf maximale Leistung optimiert, indem die mechanischen Eigenschaften des Betons entsprechend den statischen und bauphysikalischen Anforderungen manipuliert werden. Der Rosenstein-Pavillon ist der erste Prototyp, bei dem dieses Prinzip auf das Objekt als Ganzes angewendet wird.

„Ähnlich dem menschlichen Knochen wird die Struktur der Schale durch die Verteilung von offenen Poren optimiert. Dabei variieren Dichte und Richtung der Porosität entsprechend der Größe und Richtung des Spannungsfeldes. In hoch belasteten Bereichen, in denen mehr Material benötigt wird, sind die Poren kleiner. Umgekehrt wird die Porosität an Stellen mit geringer Belastung erhöht, was den Materialeinsatz reduziert“, erklärt Architektin Daria Kovaleva vom ILEK, die für Entwurf und Planung des Rosenstein-Pavillons verantwortlich ist.

Entwurf und Herstellung der Schale

Bei einer Fläche von 45 Quadratmetern ist die Betonschale nur 3 cm dick. Die Form sowie die Materialverteilung wurden in einem iterativen und interdisziplinären Entwurfsprozess entwickelt. Aufgrund des temporären Charakters der Ausstellung ist die Schale als fliegender Bau bestehend aus 69 Einzelteilen konzipiert.

Für die Produktion wurden zweiseitige Schalungselementen mit einer CNC-Maschine gefräst, mit einer Carbonfaser-Bewehrung und den entsprechenden Verbindungselementen versehen und danach mit Beton verfüllt. Die Segmente wurden vor Ort auf einem Holzgerüst montiert. Abschließend wurde ein Stahlseil am umlaufenden äußeren Rand eingezogen und vorgespannt. Dadurch wurde die Schale in ihre finale Form gebracht und gleichzeitig der planmäßige Beanspruchungszustand herbeigeführt.

Das Gebäude ist wirtschaftlich und hat Seele ...

Seit der Erfindung durch Werner Sobek Ende der 1990er Jahre forscht das ILEK intensiv am Thema Gradientenbeton. Mit dem Rosenstein-Pavillon ist es nun durch die gemeinsame Anstrengung aller Projektbeteiligten gelungen, eine vollständige Struktur aus Gradientenbeton im architektonischen Maßstab zu realisieren.

Die nur 3 cm starke Schale verwendet 40 % weniger Material als eine herkömmliche Schale aus massivem Beton – bei gleicher Tragfähigkeit! Der Aufwand hat sich auch gestalterisch gelohnt: Die Konstruktion bildet eine perfekte tektonische Einheit, bei der die Komponenten Form, Struktur und Material fließend ineinander übergehen. Inspiriert von der Morphogenese – der Entwicklung von Organismen und Organen von Lebewesen – ist mit der filigranen Betonschale etwas ganz Neues entstanden. Gleichzeitig erscheint dem Betrachter das Gebilde seltsam vertraut, wie ein lebendiger, filigraner Organismus.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 September/Oktober