Sind die Niederlande Vorreiter des Zirkulären Bauens?

Architektur und Bau

Beitrag von Architekt Dipl.-Ing. Mathias Lehner, Strategischer Stadtentwicklungsberater Stadt Zaanstad, Research Director nextcity.nl

Die Niederlande beschlossen 2016, die Wirtschaft bis 2050 vollständig kreislauffähig zu machen. Auch hier ist die Bauwirtschaft für den größten Teil des Müllaufkommens verantwortlich. Gerade Entwerfer haben nun die große Aufgabe, das zu ändern.

Radikales Umdenken

Am Anfang dieses Artikels stand die Frage „wie das denn mit dem Bauschuttrecycling in Holland ist“. Obwohl in Holland bereits 50 % des verwendeten Baumaterials aus Recycling kommt, erhöht der staatlich projektierte Neubaubedarf von 1 - 2 Mio. Wohneinheiten bis 2050 den Materialbedarf immens. Radikales Umdenken, neue Geschäftsmodelle und Finanzierungsformen stehen ebenso auf der Agenda, wie zwingende gesetzliche Maßnahmen, um die Kreislauf-Bauwirtschaft bis 2050 zu erreichen. Architekten haben dabei eine zentrale Rolle, da bereits im Entwurf die Weichen gestellt werden, ob ein Bauprojekt zirkulär ist. Schaffen es die Niederlande in ihrer bedrängten Lage unter dem Meeresspiegel, die nahezu vollständige Wiederverwendung von Baumaterial zu ermöglichen?

Fairness und integrales Denken

Wir denken noch linear. Auf Großbaustellen ebenso wie im Alltag. Wir kaufen neue Dinge und werfen alte weg. Das Reparieren eines – oft zusammengeklebten – Handys ist unmöglich oder „zahlt sich nicht aus“. Dass es anders geht, beweist das holländische Fairphone schon seit 2010: dank cleverer Verbindungsdetails kann man es auseinandernehmen und reparieren. Für die aktuellen niederländischen Wohnbauaufgaben wurde das Beispiel des industriell gefertigten und nachhaltigen Fairphone bewusst gewählt. Vereint sucht die niederländische Bauwirtschaft nach schnell zu bauender, zirkulärer Architektur. Man stellt integrale Verträge und Entwurfsprozesse auf, in denen das Bauen ein geschlossener Kreislauf ist. Kein linearer Prozess an dessen Ende Bauschutt übrigbleibt.

Gemeinsame Sprache

Um für alle Stakeholder „verständlich zu machen, was der andere meint“ hat die Plattform CB23 das Lexikon Zirkulärer Bau publiziert. Circulair bouwen bedeutet demnach das „Entwickeln, Verwenden und Wiederverwenden von Gebäuden, Gebieten und Infrastrukturen ohne natürliche Vorräte unnötig zu strapazieren, die Umwelt zu verschmutzen und das Ökosystem anzutasten. Bauen auf eine Art, die wirtschaftlich ist und zum Wohlbefinden von Mensch und Tier beiträgt. Hier und dort, jetzt und später.“ Wichtiger Teilaspekt des zirkulären Bauens ist das radikal veränderte Mindset. Bauwerke sind temporär. Nur einige Tage oder hunderte Jahre: Nach einer gewissen Zeitspanne wird ein Gebäude verändert oder abgerissen, und dank eines zirkulären Entwurfs kann das Baumaterial dann wiederverwendet werden. Es ist nur im Gebäude „zwischengelagert“.

Drei hochaktuelle Vorbildprojekte

Mittlerweile gibt es eine respektable Auswahl an realisierten Beispielen. „Aber man muss unterscheiden“ sagt Wytze Kuijper von der Plattform Cirkelstad „ob Baumaterial, gewisse Bauteile oder das gesamte Gebäude wiederverwendet werden können.“ Das Beispiel des Bueros Overtreders W aus Amsterdam ist am radikalsten. Durch die relative Außenseiterrolle als Industriedesigner haben sie früh die heutige Systematik des Bauens kritisch hinterfragt. Als Materialchoreographen lehnen sie es ab, Baumaterial wegzuwerfen oder Reste zu produzieren. 2017 realisierten sie den People’s Pavillion, einen temporären Saal mit 300m2 , der zu 100 % aus geborgtem Baumaterial bestand. Dazu wurde der Entwurf abgestimmt auf Standardformate. Kein einziges Bauteil wurde zugesägt, alle Verbindungen durch Spanngurte und Kabelbinder waren wieder spurlos zu lösen.

Auch bei dem 2016 vom Delfter Architektenbüro Cepezed realisierten Amsterdamer Stadtgericht sind die Details innovativ. Weder in Akustik, Sicherheit oder Repräsentativität ist dem 5.400m2 großen Gebäude anzumerken, dass seine Bauteile komplett wiederverwendbar sind, und dass beim Bau kaum Abfall entstand. Die mit Ingenieurbüro IMd entwickelten Details und Bauteilverbindungen sind ohne Beschädigungen zu lösen. Als drittes Beispiel inspiriert das im Rheinhafen von Rotterdam von Powerhouse entworfene Bürogebäude für das Global Center of Adaptation. Das CO2 -neutrale Projekt von 3.700m2 ist momentan im Bau. Es ruht auf einem Betonponton, aber „die Konstruktion des Hochbaus aus Holz kann einfach auseinandergenommen und wiederverwendet werden. Sie ist bereit für die Circular Economy“, sagt Projektarchitekt Paul Sanders.

Bald nur noch zirkuläres Baumaterial?

Da im Rheindelta der Grundwasserspiegel oft knapp unter der Erdoberfläche liegt, ist Beton vorläufig noch unvermeidbares Baumaterial. Das gilt auch für das 3.000m² Konferenzgebäude Circl, das die ABN Amro Bank 2017 in Amsterdam von Architecten Cie errichten ließ. Aus den zirkulären Ambitionen des Auftraggebers resultiert ein begrünter und demontabler Hochbau aus Holz, in dem sogar die verschlissenen Jeans der Bankangestellten in Akustikplatten verwendet wurden. Das Untergeschoss ist traditionell aus Beton gegossen. Für 100 % Zirkularität müssen also auch mineralische Baustoffe weiterentwickelt werden; auch wegen der CO2 -Bilanz, die die dänische CINARK in ihrer online Materialpyramide aufzeigt. Holz ist von sich aus CO2 positiv. Aber der 2009 vorgestellte Click Brick der Daas Backsteinfabrik (heute Wienerberger) zeigt, dass auch ein mineralisches Baumaterial dank cleverer Details zu 100 % wiederverwendbar sein kann. „Eine Welt, in der die Menschheit Baumaterial ewig wiederverwenden kann“ ist das Ziel des Architekten Thomas Rau. Er ist einer der Pioniere des zirkulären Bauens, und hier setzt die 2016 von ihm gegründete Materialbank Madaster an: Baumaterial wird registriert, wodurch es nicht „anonymer“ Abfall werden kann. Diese Identifizierbarkeit verbauter Materialien durch Ausstellung eines Materialpasses wird voraussichtlich bis 2022 in den Niederlanden gesetzlich vorgeschrieben.

Upscaling

Aber „für die große Wohnbauaufgabe ist viel mehr Standardisierung nötig, wie etwa in der Autoindustrie“ sagt Rau 2021 im Interview mit der Zeitschrift De Architect. Somit schließt sich der Kreis zum eingangs erwähnten Fairphone. Die brandneuen, remontablen Konzepte von z.B. Finch Buildings, und die Siedlungen des neuen Arbeitsverbundes De Bouwstroom zeigen das.

Die Wohnkonzepte Fijn Wonen der Baufirma Van Wijnen oder Optio von Van Wanrooij zum Beispiel haben akzeptable architektonische Qualität. Sie werden unter optimalen Umständen rasch industriell vorgefertigt und in wenigen Tagen aufgestellt. Und, nicht unwichtig: inklusiv aller Nebenkosten und Steuern kosten die kleineren Reihenhäuser 170.000 Euro. Das ist beachtlich, weil in den Niederlanden momentan die historisch höchsten Wohnungspreise gemessen werden, mit Quadratmeterpreisen von bis zu 10.000 Euro für die Covid-19 gebeutelten Käufer. So werden die Niederlande dann doch Vorreiter, weil Zirkularität als Kostenbremse wirkt: das ist hierzulande das überzeugendste Argument!

Literatur

[1] Agenda der Transformation zur Kreislaufwirtschaft im niederländischen Bau: circulairebouweconomie.nl wp-content/uploads/2019/07/1821700-01- Transitie-Agenda-Circulaire-Bouweconomie. pdf

[2] Plattform 23. Arbeitsplattform von niederländischen Ministerien, Branchenorganisationen im Bau und Experten: platformcb23.nl over-platform-cb-23

[3] Cirkelstad, das niederländische Expertennetzwerk für zirkuläres und inklusives Bauen: https://www.cirkelstad.nl/

[4] Die dänische CINARK Materialpyramide mit CO2 Fußabdruck pro Kubikmeter Baumaterial: materialepyramiden.dk

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2021 MAI/JUN