Wasserstoff im künftigen Energiesystem

Beitrag von Dr. Almut Kirchner, Prognos AG

Wasserstoff ist in den letzten beiden Jahren verstärkt als Ergänzung in einem dekarbonisierten Energie- und Wirtschaftssystem in den Blick gerückt. Manchmal erscheint die Zuschreibung künftiger Rollen allerdings von starkem Wunschdenken getrieben – dahinter steckt zumeist die Hoffnung, der Wasserstoff könne die Rolle von Erdölprodukten oder Erdgas einnehmen, und daher müsse sich im Grundsatz nicht viel ändern. Es ist sinnvoll, hier basierend auf den physikalischen Eigenschaften und Restriktionen eine realistische Einschätzung zu entwickeln – denn es hat seine physikalischen, technischen und wirtschaftlichen Gründe, weshalb er nicht schon längst eine Rolle im Energiesystem spielt.

Eigenschaften und Herausforderungen

Wasserstoff als möglicher stofflicher Energieträger oder -speicher «verbrennt» kohlenstofffrei zu Wasser und entlässt somit bei der «Energieproduktion» kein Kohlendioxid in die Atmosphäre. Die Energiedichte bezogen auf die Masse liegt zumindest in den Grössenordnungen derjenigen von Kohlenwasserstoffen – bezogen auf das Volumen ist sie geringer, aber bleibt immer noch interessant genug. Darüber hinaus ist Wasserstoff auch als Reduktionsmittel bei der Produktion von Roheisen in der Stahlindustrie interessant. Auf diese Weise kann der Einsatz von Koks ersetzt werden und die bei der Eisenproduktion entstehenden Prozessemissionen sozusagen an der Quelle vermieden werden. Auch in Raffinerieprozessen sowie in einigen Prozessen der Grundstoffchemie kommt bislang «grauer» Wasserstoff zum Einsatz, der perspektivisch durch «bunten» ersetzt werden muss.

Darüber hinaus ist (grüner) Wasserstoff einer der Ausgangsstoffe von synthetischen (strombasierten) flüssigen oder gasförmigen Brenn- und Treibstoffen, die auch unter den Abkürzungen PtG (Power-to-Gas) und PtL (Power-to-Liquid) zusammengefasst werden. 

Die Herausforderungen bei Wasserstoff liegen in zwei Punkten:

 

1) Produktion: Wasserstoff ist sehr reaktiv und kommt daher in der Natur praktisch nur in gebundener Form z. B. als Wasser oder in Kohlenwasserstoffen vor. Aus diesen muss er unter erheblichem Einsatz von Energie wieder abgespalten werden. Nur wenn Wasser unter Einsatz von Strom aus erneuerbaren Energien elektrolysiert wird, kann der entstandene Wasserstoff als «grün» und klimaschonend bezeichnet werden. Bei Abspaltung von Wasserstoff aus fossilen Kohlenwasserstoffen (meistens Methan), die nicht ganz so energieaufwendig ist und heute zur Produktion von Wasserstoff für chemische Prozesse eingesetzt wird, entsteht Kohlenstoff oder Kohlendioxid. Wenn dieses in die Atmosphäre gelangt, kann der Wasserstoff nicht als klimafreundlich bezeichnet werden. Er wird dann als «grau» bezeichnet. Wenn der Kohlenstoff oder das Kohlendioxid abgeschieden und dauerhaft aus dem Kreislauf entfernt wird, spricht man von «blauem» oder «türkisem» Wasserstoff. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik kann auch hier nicht umgangen werden – sowohl bei der Produktion von Wasserstoff als auch bei der Oxidation zur Energiegewinnung (Brennstoffzelle oder Direktverbrennung) sind Wirkungsgradverluste bei den eingesetzten Prozessen und Anlagen unvermeidlich. Um eine Kilowattstunde Energie aus Wasserstoff zu erzeugen, müssen zuvor ungefähr zwei Kilowattstunden – idealerweise an grünem Strom – hineingesteckt werden. Wasserstoff ist also «energetisch teuer» und sollte daher nur zu solchen Verwendungszwecken eingesetzt werden, in denen Alternativen kaum vorhanden oder noch teurer sind.

2) Handhabung: Die Wasserstoffmoleküle sind sehr leicht und klein, damit diffundieren sie durch die meisten Materialien. Wasserstoff ist sehr reaktiv und explosiv, gasförmig bis zu einer Temperatur von ca. -253 °C. Es ist daher eine Herausforderung, ihn sicher zu transportieren und zu speichern. Jeder Speichervorgang ist mit zusätzlichem Energieaufwand verbunden. Seit Jahren wird an verschieden Speicheroptionen für unterschiedliche Anwendungszwecke geforscht. Unter anderem von der Entwicklung dieser Optionen werden die Anwendungen abhängig sein, in denen Wasserstoff schliesslich breiter eingesetzt werden kann.

Diese Herausforderungen haben bislang verhindert, dass Wasserstoff als Energieträger entwickelt und eingesetzt wird.

Mögliche Einsatzzwecke im Energieund Wirtschaftssystem

Der Einsatz in der Stahlindustrie sowie in Raffinerien und der Ersatz des «grauen» Wasserstoffs in der Chemieindustrie durch «bunten» adressieren einen großen Teil der Prozessemissionen, sowie einen Teil der mit in diesen Branchen entstehenden Energieemissionen. Allerdings sind in der Industrie insbesondere die Kosten eine erhebliche Herausforderung. Hier werden für die Umsetzung starke und passgenaue flankierende politische Unterstützungsinstrumente benötigt.

Längerfristig kann Wasserstoff im Stromsystem für den Betrieb von Backup-Kraftwerken und zum Ausgleich der saisonalen Differenzen eine Rolle spielen.

Sehr wahrscheinlich ist ein Einsatz im Schwerverkehr sowie im Schienenverkehr,wenn dieser nicht gut elektrifiziert werden kann und sich möglicherweise räumliche Synergien mit Wasserstoffproduktion ergeben.

Der breite Einsatz von Wasserstoff als Energieträger im motorisierten Individualverkehr erscheint nicht sinnvoll, da in der Gesamtbilanz der batterieelektrische Antrieb bereits heute energetisch (und wirtschaftlich ohnehin) günstiger ist und derzeit weitere schnelle Fortschritte durchlaufen werden. Ähnliches gilt für den Einsatz in der Gebäudeheizung – hier gibt es energetisch und wirtschaftlich günstigere Alternativen, die weit weniger komplizierten Infrastruktur- und Handlingaufwand erfordern.

In den Szenarien «klimaneutrales Deutschland» und «klimaneutrales Deutschland bis 2045», die wir gerade gemeinsam mit dem Wuppertal-Institut und dem ÖkoInstitut im Auftrag von Agora Energiewende et al. fertiggestellt haben, wurde für 2050 bzw. 2045 ein Einsatz von Wasserstoff für diese Zwecke in Höhe von ca. 15 % des Primärenergieverbrauchs berechnet. Das sind ungefähr 270 TWh, dabei fällt der grösste Verbrauchsanteil im Stromsektor an. Allerdings wird nur ungefähr ein Drittel der erforderlichen Menge inländisch produziert, der Rest wird importiert – vor allem aus den windstarken westlichen Ländern (siehe Grafik).

Rolle der Infrastruktur zur Unterstützung des Wasserstoffeinsatzes

An der Umrüstung und Umwidmung einiger Leitungen aus dem Ferngas-Übertragungsnetz wird bereits gearbeitet. Dabei sind angesichts der veränderten Dichte, höheren Reaktivität und Diffusion des Wasserstoffs gegenüber dem Erdgas einige Herausforderungen im Anlagenbau und bei den Materialien zu meistern. Diese Teile des Ferngasnetzes werden beim Transport über längere Strecken eine Rolle spielen und das Kernstück eines Wasserstoffnetzes bilden.

 

Erforderliche Entwicklungsschritte für die Integration von H2 ins Energiesystem

Ob die Anteile von Wasserstoff im künftigen Energiesystem den Begriff «Wasserstoffwirtschaft» rechtfertigen, wird sich zeigen. Wahrscheinlich ist das künftige System doch eher stromdominiert, denn es ist angesichts der Wirkungsgradverluste bei jedem Umwandlungsschritt natürlich sinnvoll, den kostbaren grünen Strom so weit als möglich direkt energetisch zu verwenden.

Dennoch wird Wasserstoff, wie oben ausgeführt, eine deutliche Rolle in einem klimaneutralen Energie- und Wirtschaftssystem spielen. Damit sich das rechtzeitig entwickeln kann, sind praktisch in allen Bereichen der Kette weitere Entwicklungsschritte und vor allem Kostendegressionen, die über «Lernkurven» entstehen, erforderlich. Das betrifft die Schritte:

  • Wasserstoffproduktion in Kombination mit fluktuierender erneuerbarer Stromproduktion – welche Anlagen- und Auslegungskombinationen sind für welchen Einsatzzweck optimal?
  • Verfolgung der verschiedenen Speicher- und Transportoptionen, wie z. B. organische Lösungsmittel, Metallhydride, Hochdruck, Tiefkühlung, Kombinationen, Ammoniak. Je nach Einsatzart können verschiedene Speicheroptionen angepasst sein. Im (Schwer-)Verkehr werden sichere Speicher mit relativ hoher Energiedichte benötigt – bei stationären Anwendungen in der Industrie können eher Druck- oder Kältespeicher zum Einsatz kommen.
  • Direkte Transportoption in Pipelines. Hier sind im Gesamtsystem mit Einund Ausspeicherung, Verdichtern etc. noch einige Optimierungs- und Sicherungsaufgaben zu erledigen.
  • Rückverstromung – auch die Brennstoffzellen können und müssen noch weiter entwickelt werden, und sicher werden sich spezifische Technologien für spezifische Einsatzzwecke herausmendeln.

Daher ist es günstig, die Aktivitäten einerseits noch breit zu halten, um technologieoffene Entwicklung zu ermöglichen, andererseits zu bündeln und gut zu vernetzen, damit das Wissen möglichst schnell in Aktivitäten auf Marktebene umgesetzt werden kann.

Dazu braucht es aber zumindest für eine Übergangszeit eine Unterstützung mit politischen Instrumenten. Dazu gehört auch eine Einbindung der Leistungen, die Wasserstoff für das Stromsystem erbringen kann, ins Marktdesign.

Es ist eine Menge zu tun, und mit der Wasserstoffstrategie als Rahmensetzung werden gerade die ersten Weichen gestellt.

Zur Autorin

Dr. Almut Kirchner ist Direktorin bei der Prognos AG und leitet dort den Bereich «Energieund Klimaschutzpolitik» sowie das Kompetenzzentrum Modelle. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen modellgestützte langfristige Prognosen und Szenarien von Gesamtenergiesystemen. Dabei besonders untersuchte Fragen sind ökologische und ökonomische Auswirkungen der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs, System- und Infrastrukturfragen, Technologieentwicklung, Energiepolitik, Versorgungssicherheit und Verwundbarkeit sowie Wirkungen energie- und klimapolitischer Instrumente.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2021 November/Dezember