Wasserstoffwirtschaft

Visionen eines ewig nutzbaren Energiesystems

Beitrag von Dr. Konrad Schönleber

Die Vorstellung, den universell verfügbaren Rohstoff Wasser zur Speicherung und zum Transport von Energie in Wasserstoff zu spalten, spielt seit mindestens 150 Jahren in vielen Visionen eines für alle Zeiten nutzbaren Energiesystems eine besondere Rolle. Wasserstoff ist dabei stets ein sekundärer Energieträger, der in ein Gesamtsystem eingebettet ist. Daher ist es sinnvoll von einer „Wasserstoffwirtschaft“ zu sprechen. Es ist zudem sehr wichtig bei der Diskussion von Wasserstofftechnologie von vornherein nach der Herkunft des Wasserstoffs zu unterscheiden. In den Szenarien, die hier vorgestellt werden sollen, ist meist von elektrolytisch gewonnenem Wasserstoff die Rede.

1874: Eine erste Idee für die Anwendung von Wasserstoff

Eine frühe Vision einer Wasserstoffwirtschaft wurde vom französischen Autor Jules Verne eher beiläufig in seinem Roman „Die geheimnisvolle Insel“ von 1874 skizziert. Hier wurde Wasserstoff als Lösung des Problems der endlichen fossilen Energiequellen präsentiert. Verne entwarf dabei keine vollständige Wasserstoffwirtschaft und beschäftigte sich nicht mit den notwenigen Energiequellen für die Wasserspaltung. Interessant ist aber, welche Anwendungsbereiche für Verne im Vordergrund standen. Er stellte sich insbesondere einen Einsatz im Mobilitätsbereich in dem Schiffe anstelle von „Kohlebunkern“ „Wasser in seine Einzelteile gespalten“, also Wasserstoff, mit sich führen sollten. In seiner Vision sah er Wasser als die „Kohle der Zukunft“.

1923: Erster Entwurf einer integrierten Wasserstoffwirtschaft

In etwa 50 Jahre später, 1923, stellte der Cambridge-Professor J.B.S. Haldane eine umfassendere Vision einer Wasserstoffwirtschaft vor, die bereits erstaunliche Parallelen zu heutigen Szenarien aufwies. Im Rahmen einer umfassenden Zukunftsvision stellte er sich die Energieversorgung 400 Jahre später als integriertes Mischsystem basierend auf Elektrizität und Wasserstoff vor. Als einzige Quelle die für alle Zeiten ausreichend Energie liefern konnte, sah er die Windkraft an. Wasserstoff sollte dabei als Energiespeicher dienen, um die Unregelmäßigkeiten des Windangebots auszugleichen. Zudem sah er wie auch Verne eine Anwendung des Wasserstoffs auch im Mobilitätssektor und der Landwirtschaft.

1970er: Eine Umsetzung beginnt realistisch auszusehen

Weitere 50 Jahre später erlebte die Idee einer Wasserstoffwirtschaft eine neue Blüte, diesmal getrieben durch eine neu entwickelte, als unerschöpflich gesehene Energiequelle: Die Kernenergie. Erstmals wurden nun konkretere Szenarien mit einer Umsetzungsperspektive in Jahrzehnten entwickelt. Die Rolle des Wasserstoffs im Energiesystem wurde auch wieder stark im Mobilitätssektor gesehen, da die Kernenergie hier nicht auf anderem Wege zum Einsatz gebracht werden konnte. In den umfassendsten Visionen der Wasserstoffwirtschaft sollte sogar Strom als übertragbarer, leitungsgebundener Energieträger vollständig durch Wasserstoff ersetzt werden. Die Kernkraftwerke sollten hier direkt Wasserstoff herstellen, der dann über Leitungen, vergleichbar dem heutigen Erdgasnetz direkt an die Haushalte geliefert werden sollte. Strom wäre dabei direkt bei den Verbrauchern durch Brennstoffzellen erzeugt worden.

Heute: Wasserstoff als Teil der Energiewende

Seither sind wieder etwa 50 Jahre vergangen und die Rahmenbedingungen haben sich erneut stark verändert. Die menschengemachte globale Erwärmung wurde von einer überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung als globale Herausforderung erkannt. Diese anzunehmen impliziert eine schnelle und umfassende Dekarbonisierung aller Prozesse der wirtschaftlichen Wertschöpfung. Dazu stehen heute erneuerbare Energien in großen Mengen fast überall auf der Welt zu konkurrenzfähigen Preisen zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund ist der großtechnische Einsatz von Wasserstoff als Energiespeicher im Strom- und Mobilitätssektor und als Prozessrohstoff in der Industrie ökonomisch sehr attraktiv geworden. Dies schlägt sich auch in politischen Visionen nieder, wie etwa der europäischen oder der Deutschen Wasserstoffstrategie. Es wurden allerdings in den 100 Jahren seit dem Vortrag Haldanes weitere technische Optionen, wie etwa batterieelektrische Fahrzeuge, für viele potentielle Anwendungen von Wasserstoff entwickelt. In welchem Maße Wasserstoff in der Energieversorgung und Industrieprozessen der Zukunft zum Einsatz kommt, ist also noch längst nicht ausgemacht. Sicher scheint aber heute zu sein, dass Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen wird und sich 150 Jahre nach Jules Vernes erster Idee die Vorstellung von Wasserstoff als „Kohle der Zukunft“ zumindest zum Teil bewahrheitet.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2021 November/Dezember