Beitrag von Dr. Andreas Kießling und Alexander Jäger, Bayernwerk
Die Dezentralisierung der Energielandschaft in Bayern schreitet im Zuge der Energiewende in schnellem Tempo voran. Im folgenden Beitrag wird eine Studie von Bayernwerk und E-Bridge Consulting vorgestellt, die sich mit den Anforderungen an die zukünftige Energielandschaft beschäftigt. Mit der Realisierung eines innovativen "Flower.Power-Energiekonzepts" soll die Versorgungssicherheit auch in Zukunft sichergestellt werden.
In Bayern bündeln sich Hauptfragen einer dezentralen Energiewende: 2010 war jede zehnte PV-Anlage weltweit im Netz des Bayernwerks installiert – heute speisen bereits über 285.000 Solaranlagen dorthin ein. Gleichzeitig gehen mit dem Kernenergieausstieg historisch prägende Großkraftwerke vom Netz. Die Dezentralisierung der Energielandschaft in Bayern ist damit schneller und radikaler als in vielen anderen Ländern. Auch in der nächsten Phase der Energiewende mit neuen elektrischen Verbrauchern stehen die Verteilnetze im Mittelpunkt.
In einer Studie hat sich das Bayernwerk zusammen mit E-Bridge Consulting mit der Zukunft dieser Energielandschaft beschäftigt und das Stromsystem konsequent „von unten nach oben“ analysiert.
Die Energiewende wird die Art der Stromerzeugung, des Stromverbrauchs und der Stromspeicherung in Bayern signifikant verändern. Sind aktuell noch mehr als 11.000 MW an konventioneller Kraftwerksleistung am Netz, so wird deren installierte Leistung um nahezu 40 % bis 2030 sinken und die Stromproduktion von der volatilen Erzeugung aus erneuerbaren Quellen dominiert.
Daneben ist mit einer stärkeren Elektrifizierung des Mobilitäts- und Wärmesektors zu rechnen. Für das Jahr 2030 gehen wir von ca. 2 Mio. E-PKW und 660.000 Wärmepumpen aus. Kleinspeicher nehmen deutlich zu (ca. 380.000 in 2030). Diese neuen Anwendungen haben das Potenzial, flexibel auf die Anforderungen von Markt und Netz zu reagieren. Voraussetzung dafür ist eine zunehmende Vernetzung und Digitalisierung. Dadurch können die Zustände der Elektrizitätsnetze in Echtzeit gemonitort und Engpässe durch Flexibilitätseinsatz effizient bewirtschaftet werden.
In dieser nächsten Phase wird das Stromnetz sinnbildlich „vom Kopf auf die Füße“ gestellt. Denn im traditionellen Denkmuster der Energietechnik beginnt das Stromsystem im Höchstspannungsnetz und endet im Niederspannungsnetz. Das war bisher auch richtig.
Die Energiewende verändert dieses Paradigma jedoch grundlegend: Schon heute sind mehr als 18.000 MW EE-Anlagen ans bayerische Verteilnetz angeschlossen. Bis 2030 zeigen unsere Berechnungen – ohne Berücksichtigung zusätzlicher „Gamechanger“ wie außerhalb der EEG-Förderung errichtete PV-Großanlagen – einen Anstieg auf ca. 31.000 MW. Damit wird der Strom künftig in vielen Stunden des Jahres in den Spannungsebenen erzeugt, in denen auch die Verbraucher angeschlossen sind.
In Bezug auf die jährliche Strombilanz kann der Zubau an EE-Anlagen den Rückbau von Großkraftwerken bis 2030 allerdings nicht ganz ersetzen – zumal die Studie auch von einer Steigerung des Strombedarfs um 11,6 TWh ausgeht. In Summe ergibt sich daher für das Jahr 2030 eine negative Energiebilanz in Höhe von 6,2 TWh – Bayern wird also zum Stromimporteur.
Abbildung 2 stellt die Veränderung dar: Während im „ländlichen Raum“ (Gebiete mit Städten und Gemeinden bis 100.000 Einwohner) im Jahr 2017 noch in Summe 3 TWh elektrische Energie mehr verbraucht als erzeugt wurde, wird die Energiebilanz 2030 mit 8,8 TWh Überschuss an elektrischer Energie für Bayern positiv. Anders verhält es sich bei Großkraftwerken und Industrie: Während konventionelle Anlagen 2017 noch mehr Strom erzeugten als die Industrie verbrauchte (+15,7 TWh), kippt dieses Verhältnis bis 2030 (-7,4 TWh). Die Energiebilanz der Großstädte in Bayern bleibt auf einem vergleichbaren Niveau (-8,3 TWh), da sich ein Ausgleich zwischen vermehrter Stromerzeugung (PV) und zunehmendem Stromverbrauch (z. B. durch E-Mobilität) abzeichnet.
Bei den Analysen zeigt sich ein besonderer, für die Studie namensgebender Effekt. Das Versorgungsgebiet des Bayernwerks ist häufig wie eine Blume strukturiert: Ein Lastzentrum in der Mitte („Blütenkelch“) ist von einer ländlichen Struktur mit Erzeugungsüberschuss („Blütenblätter“) umgeben. Daraus ergibt sich die Flower.Power-Frage: Wie weit können die Blütenblätter den Blütenkelch mit Strom versorgen?
Das Ergebnis:
Ein Großteil der regional erzeugten Energie wird aber unter den heutigen Rahmenbedingungen nicht tatsächlich regional verbraucht werden. Aufgrund der fehlenden zeitlichen Synchronisierung sind die Regionen nur in ca. der Hälfte der Zeit tatsächlich eigenversorgt. Stattdessen wird ein hoher Anteil der erneuerbaren Stromerzeugung aus Bayern hinaus exportiert und zu einem späteren Zeitpunkt wieder importiert – mit steigenden Anforderungen an das Netz. In der Spitze beträgt der Export im Jahr 2030 ca. 15.000 MW – eine Steigerung im Vergleich zu 2017 um 75 Prozent. Auch der maximale Bezug steigt signifikant von 6.900 MW auf über 11.200 MW (+62 %) an. Regional würde dies zu einem sehr hohen Netzausbaubedarf in Bayern führen.
Das hohe bilanzielle Potenzial zur regionalen Eigenversorgung in Bayern kann durch eine räumliche und zeitliche Synchronisierung von Einspeisungen und Lasten tatsächlich genutzt werden – mit positiven Effekten für das Netz und die Versorgungssicherheit. Konkret ergeben sich vier Optionen:
Dem Verteilnetzbetreiber kommt im neuen Energiesystem zukünftig eine Schlüsselrolle zu. Denn insbesondere die Nutzung von Flexibilitäten bietet signifikante Potenziale zur Optimierung des Netzausbaubedarfs, zum Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch und letzten Endes zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit. Auch der Bau zusätzlicher Speicher ist ein weiteres effektives Mittel zur Realisierung des innovativen Flower.Power-Energiekonzepts. Eine leistungsfähige Netzstruktur ist die unabdingbare Basis. Bereits heute investiert das Bayernwerk in das intelligente Stromnetz von morgen, denn nur mit einem klugen Mix aus klassischem Netzausbau und Digitalisierung ist die geschilderte Energiezukunft möglich.
Allerdings müssen die politischen Rahmenbedingungen noch verbessert werden: Die Regulierung muss den neuen Aufgaben der Netzbetreiber angepasst werden und (Verteil-)Netzbetreiber benötigen die nötigen Instrumente für einen netzdienlichen Flexibilitätseinsatz. Gleichzeitig benötigen auch die Kunden Anreize, ihre Flexibilität netzdienlich zur Verfügung zu stellen. Schließlich beruht die Studie auf einem weiteren intensiven Zuwachs an erneuerbarer Stromerzeugung in Bayern und der Absicherung der Versorgung über KWK-Anlagen.
Für beide Fälle gilt, dass die Politik verlässliche und attraktive Rahmenbedingungen schaffen muss, um eine Investition in solche Anlagen zu ermöglichen.
Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2020 Juli/August