Zelluläre Strukturen im zukünftigen Stromsystem

Beitrag von Prof. Dr.-Ing. Ulrich Wagner, Lehrstuhl für Energiewirtschaft und Anwendungstechnik, TU München, und Forschungsstelle f. Energiewirtschaft e.V

Unser Energiesystem erlebt einen vielfachen Paradigmenwechsel. Dabei kommt der Zuverlässigkeit des Stromsystems eine zunehmende Bedeutung zu, schließlich hängen alle anthropogenen und technischen Vorgänge und Prozesse direkt oder indirekt von der zuverlässigen Verfügbarkeit elektrischer Energie ab. Der folgende Beitrag wirft einen Blick auf die anstehenden Veränderungen und die damit verbundenen Herausforderungen für die Stromwelt der Zukunft. Als Lösungsansatz werden zelluläre Strukturen vorgestellt. 

Klimaziele

Die Ziele der Bundesregierung zum Klimaschutz sind äußerst ambitioniert: 45 % erneuerbare Energien in der Stromerzeugung bis 2025, Abschaltung der Kernenergie im Jahr 2022, Minderung der CO2 -Emissionen um 55 % bis 2030 sowie Senkung des Primärenergieverbrauchs um 50 % gegenüber 2008. Derzeit nähert sich der Anteil der erneuerbaren Energien im Stromsektor bereits der 40 %-Marke, während er im Wärmesektor mit 14 % und im Verkehrssektor mit 6 % noch deutlich darunterliegt und nur sehr langsam zunimmt.

Bei all diesen Veränderungen kommt der Zuverlässigkeit des Stromsystems eine zunehmende Bedeutung zu. Schließlich hängen alle anthropogenen und technischen Vorgänge und Prozesse direkt oder indirekt von der zuverlässigen Verfügbarkeit elektrischer Energie ab. Der folgende Beitrag wirft einen Blick auf die anstehenden Veränderungen und die damit verbundenen Herausforderungen.

Historie

Über Jahrzehnte wurde das Stromsystem sukzessive auf Grundlage großer Kraftwerksblöcke möglichst in Verbrauchernähe ausgebaut. Dazu haben sich entsprechende Transport- und Verteilnetzstrukturen entwickelt, ausgelegt auf zentrale Erzeugung mit kurzen Transportwegen. Nach 1998 hat die Liberalisierung der europäischen Strommärkte die Erzeugungs- und Transportstrukturen erheblich beeinflusst, mit den erforderlichen technischen Anpassungen. Zudem hat sich der Bedarf an elektrischer Energie über die Jahrzehnte kontinuierlich erhöht.

Im bisherigen Stromsystem herrscht(e) das Prinzip „Erzeugung folgt Verbrauch“. Die benötigten Ressourcen für Erzeugung und Transport waren dank der monopolistischen Strukturen redundant vorhanden, verbunden mit einem Höchstmaß an Versorgungssicherheit.

Was ändert sich?

Wie sehen die Wege von der bisherigen in die zukünftige Stromwelt aus? Technologische Fortschritte in allen Bereichen von der Erzeugung bis hin zur Anwendung werden weiter benötigt, insbesondere Techniken zur verbesserten Integration von erneuerbaren Energien. Die Digitalisierung der Energiewirtschaft muss endlich anlaufen, insbesondere muss der Smart Meter Roll out endlich Fahrt aufnehmen.

Schließlich werden durch die zunehmende Digitalisierung neue technische Anwendungen wie bidirektionales Laden von Elektrofahrzeugen und innovative Geschäftsmodelle und Handelsmechanismen möglich. Hier könnte die Blockchain-Plattform als enabler für zentrale, manipulationssichere und transparente Netzwerke eine wichtige Rolle spielen, z. B. für peer-to-peer-Handel mit Strom, also eine Art Ebay für privaten Handel mit Strom und Flexibilität.

Eine wesentliche Rahmenbedingung ist der zunehmende Bedarf an Flexibilität auf der Verbraucherseite (Lastmanagement), als Kompensation für die zunehmende Fluktuation der Stromerzeugung. Die verbleibenden konventionellen Kraftwerke werden nicht in der Lage sein, diese Erzeugungsschwankungen alleine auszugleichen, schon gar nicht im Falle negativer Residuallasten.

Dezentralisierung der Versorgungssicherheit

Das alles läuft auf einen Paradigmenwechsel in der Stromwelt zu: „Verbrauch orientiert sich an der Erzeugung“. Die Unsicherheiten der Prognosen von Erzeugern und Händlern sind dabei deutlich höher als früher, sowohl bei der Vorhersage der Verbraucherlast – insbesondere bei steigenden Anteilen von Wärmepumpen, Elektrofahrzeugen und elektrifizierten Industrieprozessen – als auch der wetterabhängigen regenerativen Stromerzeugung.

Die Versorgungssicherheit wird nunmehr nicht mehr nur von wenigen zentralen Einrichtungen gewährleistet, sondern die Aufgaben sind dezentral im System verteilt. Zum einen mindert das die Abhängigkeit und Vulnerabilität großer Anlagen (Kraftwerke, Hochspannungsleitungen), zum anderen verlagern sich dadurch mögliche Risiken hin zur sicheren Verfügbarkeit von Gasnetzen (für BHKW) oder dem Internet.

Vom Abnehmer zum Verbraucher, zum Kunden, zum Partner

Im letzten Jahrhundert wurden die Stromverbraucher als „Strom-Abnehmer“ bezeichnet und vom Energieversorgungsunternehmen aus Großkraftwerken beliefert. Mit der Liberalisierung des Energiesektors wurde aus dem Abnehmer der „Kunde“. Immer mehr Kunden oder Consumer entwickelten sich zum Prosumer mit Netzeinspeisung, das gilt für private Haushalte, Gewerbe- oder Industriebetriebe, die einen Teil ihres verbrauchten Stroms selbst erzeugen.

Im Rahmen der Energiewende verändert sich das Bild weiter: Aus dem Prosumer wird der Flexumer. Durch die Integration in das digitale Energiesystem kann der Flexumer aktiv am Energiemarkt teilnehmen und seine Flexibilitätsoptionen hochautomatisiert vermarkten. Damit stehen Flexibilitäten in der Anwendung und in der zentralen Erzeugung für netzdienliche Zwecke zur Verfügung und die Sektorenkopplung würde im Sinne einer zunehmenden Elektrifizierung des Verkehrs und Wärmebereichs vorangetrieben. Damit wird aus dem früheren Stromverbraucher endgültig ein wichtiger „Partner“ der EVU.

Zellulär und dezentral

Welche Rolle kommt im zukünftigen Energiesystem den dezentralen Techniken und zellulären Strukturen zu? Der VDE hat dies in einer Studie im Jahr 2015 umfassend untersucht.

Grundsätzlich haben dezentrale Anlagen den Vorteil, maßgeschneidert auf die Bedürfnisse der Verbraucher ausgelegt zu sein (z. B. Kraft-Wärme-Kopplung), das Potenzial für erneuerbare Energien zu erhöhen (z. B. Solarthermie, Biomasse etc.) und weniger Transportverluste zu verursachen. Zelluläre Strukturen bilden sich aus z. B. dörflichen Gemeinden, Quartieren oder Stadtteilen, mit unterschiedlichen Nutzern vom Privathaushalt über Gewerbe bis hin zu Industriebetrieben.

Der wichtigste Mehrwert von Energiezellen sind die Zellfunktionen in Abbildung 1. Dazu gehören netzdienliche Flexibilität, regionale Energieprodukte, Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch innerhalb der Zelle, aber auch eine möglicherweise höhere Akzeptanz für die Erfassung und Auswertung persönlicher Energiedaten, die den Bilanzkreis des Microgrids nicht verlassen.

Wichtige Erkenntnisse

Zusammenfassend können zwei wichtige Erkenntnisse genannt werden:

  • Das Ausbalancieren von flexibler Last und fluktuierender Erzeugung muss von unten, also vom Verbraucher, erfolgen.
  • Energiezellen bzw. Microgrids haben nicht die Energieautarkie zum Ziel, das würde Synergieeffekte zwischen den Zellen blockieren und zur Überdimensionierung der Infrastrukturen führen.

Einsatz in der Praxis

Derzeit laufen mehrere interessante Projekte, um diese Ansätze in der Praxis umzusetzen und zu erproben.

Bei dem Projekt C/sells in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen ist das Ziel der Aufbau und die Erprobung einer Flexibilitäts-Plattform, auf der Stromkunden mit und ohne Eigenerzeugung ihre Flexibilität handeln können. Ein Modellversuch mit 50 Probanden startet gerade in Altdorf bei Landshut.

Das Projekt RegHEE erforscht und entwickelt einen peer-to-peer-Energiemarkt (siehe Abbildung 2) basierend auf dezentralen Erzeugungs- und Speichereinheiten mittels einer Blockchain-Plattform, die gleichzeitig den gehandelten Strom kennzeichnet. Das Ziel ist eine verbesserte Integration erneuerbarer Energie in das Stromnetz und alternative Vermarktungsmechanismen, insbesondere nach dem Wegfall des EEG (Erneuerbare-Energien-Gesetz).

Ausblick

Es ist viel erreicht worden in den vergangenen Jahren, die nächsten Etappen werden noch herausfordernder als die zurückliegenden. Es handelt sich nicht um eine lineare Weiterentwicklung unseres Energiesystems, sondern einen Paradigmenwechsel in vielerlei Hinsicht.

Zelluläre anstelle von zentralen Strukturen sind ein Lösungsansatz von mehreren zur Stärkung der erneuerbaren Erzeugung, der Last-Flexibilisierung und für neue Geschäftsmodelle. Dabei ist zu beachten, dass mit dezentralen Energiesystemen keine regionale Autarkie erreicht werden kann (und soll).

Eine konstant hohe Versorgungssicherheit des Stromsystems ist – neben den Kosten – fundamentale Voraussetzung für die Akzeptanz der bevorstehenden großen Anstrengungen und Investitionen. Mit Blick auf die durch die Corona-Krise extrem angespannte wirtschaftliche Lage besteht die Herausforderung, und auch die Chance, die Wirtschaft gesteuert so zu stützen, dass klima- und ressourcenschonende Maßnahmen und Techniken bevorzugt gefördert werden.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2020 Juli/August