Beitrag von Prof. Dr. Roland Dittmeyer, Institute for Micro Process Engineering, Karlsruhe Institute of Technology
Am 6. September erklärte der europäische Klimadienst Copernicus in seinem August-Klima-Newsflash, dass der Sommer 2024 sowohl weltweit als auch in Europa der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gewesen sei. An diesem Tag war ich zufällig auf einer Bergtour in Graubünden, nördlich von St. Moritz, und in der Nähe der Jenatschhütte, die auf 2.652 m Höhe liegt, gibt es eine Tafel, die anzeigt, wie weit das vergletscherte Gebiet im Jahr 1862 reichte. Sehr weit! Jetzt gibt es dort nur noch Reste davon, isolierte Gletscher oberhalb von 3.000 m Höhe, hauptsächlich an den Nordhängen der umliegenden Gipfel, die um 3.200 m bis 3.400 m Höhe erreichen. Und als ich letzten Sommer den Aletschgletscher besuchte, den größten Gletscher Europas, wo der Rückgang noch deutlicher zu sehen ist, titelte die Schweizerische Kommission für Kryosphärenbeobachtung am 28. September: „Zwei Katastrophenjahre vernichten 10% des Schweizer Gletschervolumens“ und erklärte, dass die Schweizer Gletscher in den Jahren 2022 und 2023 so viel Eis verloren hätten wie in den 30 Jahren von 1960 bis 1990!
Wir stehen vor dramatischen Veränderungen durch den Klimawandel, während die Energiewende zu langsam voranschreitet und darüber hinaus durch wirtschaftliche und politische Krisen behindert wird.
Die Reduzierung der Treibhausgasemissionen durch Defossilisierung der Gesellschaft hat weiterhin Priorität. Es ist mittlerweile aber auch klar, dass wir der Atmosphäre zusätzlich CO2 werden entziehen müssen, und zwar zuerst um unsere unvermeidbaren Restemissionen, z.B. in der Landwirtschaft, auszugleichen und so den Zustand „Netto-Null“ für die gesamten Treibhausgasemissionen zu erreichen und danach, um den CO2-Gehalt der Atmosphäre wieder zurückzufahren und dadurch den Temperatur-Überschwinger zu begrenzen. Dabei gilt: Je länger wir brauchen, um Netto-Null zu erreichen, desto mehr CO2 müssen wir entfernen. Grundsätzlich gibt es drei verschiedene Methoden, um der Atmosphäre CO2 zu entziehen. Am kostengünstigsten sind sogenannte naturbasierte Lösungen. Hierzu gehören beispielsweise die Aufforstung bzw. Wiederaufforstung und die Wiedervernässung trocken gelegter Moore. Diese Methoden setzen allerdings die Verfügbarkeit ausreichend großer Flächen voraus und es besteht die Problematik, dass ihr Erfolg durch ungünstige klimatische Entwicklungen zunichte gemacht werden könnte (trockenheitsbedingter Schädlingsbefall, Waldbrände, etc.). Ebenfalls mit hohem Bedarf an fruchtbarer Fläche verbunden ist die energetische Nutzung von Biomasse mit Abtrennung des dabei entstehenden CO2 und dessen Einlagerung im Untergrund (Bioenergy with Carbon Capture and Storage, BECCS). Ein Vorteil dieser Methode ist, dass dabei Wärme oder elektrische Energie oder beides gewonnen werden kann. Weniger Fläche als naturbasierte Lösungen und BECCS benötigt die direkte Abscheidung von CO2 aus der Luft, wiederum mit dauerhafter Speicherung des CO2 (Direct Air Carbon Capture and Storage, DACCS). Von Vorteil ist dabei weiterhin, dass die für DAC benötigten Flächen nicht für den Anbau von Pflanzen geeignet sein müssen. Allerdings wird für die Extraktion des CO2 aus der Luft viel Energie benötigt und die entsprechenden Anlagen sind wegen des bislang geringen technologischen Reifegrads noch relativ teuer. Für Deutschland geht man davon aus, dass zur Erreichung von Netto-Null bis 2.045 pro Jahr einige zehn Millionen Tonnen CO2 der Atmosphäre entzogen werden müssen und weiter, dass neben naturbasierten Lösungen und BECCS auch DACCS benötigt werden wird. Die jeweiligen Anteile variieren ja nach Studie in Abhängigkeit der getroffenen Annahmen, u.a. zu den Kosten der verschiedenen Methoden. Der globale Bedarf an DACCS-Kapazität für NettoNull wird auf 1-3 Gigatonnen CO2 pro Jahr geschätzt. Während naturbasierte Lösungen recht gut erforscht sind und auch die BECCS-Ansätze bereits einen hohen technologischen Reifegrad besitzen, steht die DAC-Technologie noch am Anfang ihrer Markteinführung. Es gibt bisher nur sehr wenige im Betrieb oder im Bau befindliche kommerzielle Anlagen. Entsprechend groß sind die Unsicherheiten bezüglich des Energiebedarfs und der Kosten zumindest bei einigen der verfolgten Verfahren. Andererseits ist seit 2-3 Jahren weltweit ein regelrechter Boom im Bereich DAC zu verzeichnen, d.h. es gibt viele neue Unternehmen und es ist eine Diversifizierung des Technologieportfolios zu verzeichnen. Treiber dieser Entwicklung sind hohe Investitionen von Wagniskapital und eine massive öffentliche Förderung vorwiegend in den USA, wo mit bis zu 3.5 Milliarden USD Förderung mehrere so genannte regionale DAC-Hubs aufgebaut werden sollen, von denen jeder mindestens 500.000 Tonnen CO2 pro Jahr aus der Atmosphäre gewinnen und außerdem die gesamte Wertschöpfungskette einschließlich Transport und Einlagerung oder Nutzung des CO2 zur Herstellung von Produkten implementieren und demonstrieren soll. Um der Atmosphäre 1 Gigatonne CO2 pro Jahr zu entziehen, würde man 2.000 solche Großanlagen in Betrieb benötigen.
Bei deren linearer Implementierung bis 2045 müssten über die nächsten 20 Jahre 100 davon pro Jahr neu in Betrieb genommen werden. Bei 3 Gigatonnen CO2 pro Jahr wären es 300 pro Jahr. Diese Zahlen mögen die enormen Anstrengungen verdeutlichen, die beim Markthochlauf von DACCS unternommen werden müssen, ebenso wie den Zeitdruck, der hier besteht. Aktuell liegen die globalen Treibhausgasemissionen bei etwa 50 Gigatonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr. Ein „weiter so“ bei den Treibhausgasemissionen gekoppelt mit DACCS als Kompensation kann somit kein sinnvoller Weg sein, denn dies würde über die nächsten 20 Jahre den Bau von 5.000 solcher Anlagen pro Jahr bedeuten!
Die wesentliche Herausforderung bei der Gewinnung von CO2 aus Luft besteht in der geringen Konzentration. Luft enthält nur etwas mehr als 400 ppm. In geschlossenen Räumen, in denen sich viele Menschen aufhalten, kann der CO2-Gehalt auf Werte von 0.1-0.2 Vol.-% steigen. Um eine Tonne CO2 aus Außenluft mit 420 ppm zu extrahieren, muss man etwa 1,5-2,5 Millionen Normkubikmeter Luft durch einen technischen Apparat leiten, da hierbei im Allgemeinen nicht das gesamte in der Luft enthaltene CO2 entzogen wird. Grundsätzlich kann das CO2 an einer Feststoffoberfläche gebunden oder von einer Flüssigkeit aufgenommen werden. Bei einem Feststoff spricht man von Adsorption, bei einer Flüssigkeit von Absorption. In beiden Fällen muss der aufnehmende Stoff in der Lage sein das CO2 selektiv zu binden, damit die Abtrennung aus der Luft erfolgen kann, und es muss im Apparat für eine große Kontaktfläche zwischen der Luft und dem aufnehmenden Stoff gesorgt werden, damit dieser erste Schritt des Verfahrens effektiv ablaufen kann. Dabei gilt es weiterhin zu beachten, dass der Durchströmungswiderstand für die Luft möglichst gering ist. Andernfalls wird für die Kompensation des bei der Durchleitung der Luft durch den Apparat auftretenden Druckverlustes durch ein Gebläse zu viel Energie benötigt. Praktische Werte liegen im Bereich von 100-300 Pa (1–3 mbar), was mit einem elektrischen Energiebedarf von etwa 100-300 kWh pro Tonne CO2 einhergeht. Der Schritt der CO2-Aufnahme erfolgt „freiwillig“, die Bindung des CO2 an den aufnehmenden Stoff setzt eine gewisse Menge an Energie, in der Regel Wärme, frei. Angesichts der geringen Konzentration von CO2 kommt es allerdings nicht zu größeren Temperaturänderungen. Wenn der Feststoff oder die Flüssigkeit vollständig mit CO2 beladen ist, kommt der Prozess zum Erliegen und der aufnehmende Stoff muss regeneriert werden. Je nach Verfahren kann dies durch Zufuhr von Wärme, elektrischer Energie oder einem energiereichen chemischen Stoff als Reaktionspartner erfolgen. Dabei besteht die Möglichkeit den aufnehmenden Stoff im Apparat zu belassen und die Regeneration diskontinuierlich durchzuführen oder ihn genauso wie die Luft kontinuierlich durch den Apparat zu leiten ebenso wie durch einen oder mehrere weitere Apparate zur Regeneration, in denen dann die Freisetzung und Gewinnung des konzentrierten CO2 erfolgt. Zusammen mit der Wahl des festen oder flüssigen CO2-aufnehmenden Stoffes, dem Prinzip der Regeneration und der technischen Ausführung der jeweiligen Apparate spiegelt sich hierin eine große Vielfalt an möglichen DAC-Verfahren wieder. Der für größere Anlagen prognostizierte Energiebedarf für die Regeneration liegt bei den mit Zufuhr von Wärme arbeitenden Verfahren bei 2-2,5 MWh pro Tonne CO2. Hinzu kommt der elektrische Energiebedarf für das Gebläse. Teilweise gibt es hier auch schon Ergebnisse aus kommerziellen Anlagen, die diese Prognosen erhärten. Demgegenüber geht man davon aus, dass elektrochemische DAC-Verfahren mit 0,8-1 MWh elektrischer Energie auskommen könnten, wovon die Regeneration etwa 2/3 benötigt und das Gebläse 1/3. Diese Zahlen müssen allerdings in der Praxis im größeren Maßstab noch bestätigt werden.
Die Unternehmen Carbon Engineering, Climeworks und Global Thermostat gelten als führend im Bereich DAC im Hinblick auf praktische Erfahrung mit der Technologie. Alle drei wurden vor ca. 15 Jahren gegründet (CE und CW 2009, GT 2010) und haben mindestens größere Pilotanlagen über Jahre betrieben. Climeworks ist hiervon das einzige Unternehmen, das bereits Betriebserfahrung mit kommerziellen DAC-Anlagen vorweisen kann. Zu nennen sind hier die weltweit erste kommerzielle DAC-Anlage in Hinwil bei Zürich mit einer Entnahmekapazität von 900 t/a (Inbetriebnahme 2017) sowie die beiden größeren Anlagen in Island (Orca, 4.000 t/a, 2021 sowie Mammoth, 36.000 t/a, 2024), für die u.a. verbesserte Kollektoren zum Einsatz kamen. Climeworks und Global Thermostat benutzen ein so genanntes Temperatur-Vakuum-Wechsel-Verfahren, bei dem die Regeneration des festen Adsorbens durch Zufuhr von Wasserdampf bei etwa 100°C erreicht wird. Im Bau befindlich ist ferner die erste Großanlage von Carbon Engineering in Texas, die 500.000 t/a CO2 aus der Luft abtrennen soll (Stratos). Carbon Engineering verwendet Kalilauge als flüssiges Absorptionsmittel. Die Regeneration erfolgt über mehrere Zwischenschritte letztendlich durch Spaltung des hierbei entstehenden Calciumcarbonats bei 900°C in Calciumoxid und CO2, wobei das Calciumoxid über Hydrolyse zu Calciumhydroxid und Reaktion des Calciumhydroxids mit dem bei der CO2-Aufnahme entstehendem Kaliumcarbonat die Regeneration der Absorptionslösung bewirkt. Die hohe Temperatur für die Spaltung des Calciumcarbonats wird durch Verbrennung von Erdgas in reinem Sauerstoff erreicht. Hierbei wird eine vergleichbare Menge an CO2 erzeugt wie die, die aus der Luft abgetrennt wird. Da die Verbrennung in reinem Sauerstoff erfolgt, entsteht dabei neben CO2 nur Wasserdampf. Das bei der Verbrennung erzeugte CO2 wird deshalb ebenfalls gewonnen und kann im Untergrund eingespeichert werden. Das Verfahren ist erheblich komplexer als die von Climeworks und Global Thermostat verwendeten Technologien und eignet sich daher nur für Großanlagen. In den letzten Jahren traten viele neue Unternehmen auf den Plan, die elektrochemische Verfahren zur Regeneration der festen oder flüssigen CO2-aufnehmenden Stoffe verfolgen, darunter auch einige deutsche Unternehmen (Greenlyte Carbon Technologies, Essen, Ucaneo, Berlin, Phlair, Ismaning). Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der zweiten und dritten Generation von DAC-Verfahren.
Über den Betrieb größerer Pilotanlagen oder kommerzieller Anlagen auf Basis solcher Technologien wurde bisher nicht berichtet. Im Bau befindlich sind einige, sodass im kommenden Jahr, möglicherweise sogar noch in 2024 weitere DAC-Anlagen mit Kapazitäten im Bereich von einigen tausend Tonnen pro Jahr in Betrieb sein und entsprechende Ergebnisse liefern könnten. Weitere deutsche Start-Ups im Bereich DAC sind die Hamburger Firma DACMA und die Berliner Firma Neocarbon, die beide thermisch regenerierte DAC-Verfahren ähnlich dem von Climeworks und Global Thermostat benutzen. In diesem Zusammehang sei auch auf die 2019 gegründete DAC Coalition (www.daccoalition.org) verwiesen, die sich der Förderung von Technologien zur CO2-Entfernung aus der Atmosphäre verschrieben hat und der viele DAC-Firmen und Forschungsinstitute sowie weitere Stakeholder angehören.
Das CO2 aus den in Betrieb befindlichen kommerziellen Anlagen von Climeworks wird in Island nach einem Verfahren der isländischen Firma Carbfix im Untergrund mineralisiert und dadurch dauerhaft gebunden. Im Fall der Stratos-Anlagein Texas ist vorgesehen, dass das CO2 benutzt wird, um die Förderung von Erdöl aus teilweise entleerten Lagerstätten zu unterstützen. Hierbei gilt, dass mehr Kohlenstoff in Form von CO2 in den Untergrund gebracht wird als in Form von Erdöl zutage gefördert wird. Ansonsten wäre insgesamt kein CO2-Entnahmeeffekt aus der Atmosphäre zu beobachten. Perspektivisch wird man ein CO2-Pipelinenetz und entsprechend ausgebaute Einspeiseinfrastrukturen benötigen, um eine dauerhafte Einlagerung in leeren Erdöl- oder Erdgaslagerstätten im großen Stil zu ermöglichen. Diese Technologie wird mit CO2 aus fossilen Punktquellen an einigen Stellen weltweit bereits erfolgreich praktiziert, u.a. in Norwegen. Planungen dahingehend existieren auch in Deutschland, wie in der von der Bundesregierung im August 2024 beschlossenen Carbon-Management-Strategie dargelegt. Auch die Schaffung dieser Infrastrukturen ist eine Aufgabe, die zeitnah angegangen werden muss, um das Netto-Null-Ziel nicht zu gefährden.
Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2024 NOV/DEZ