Für mich geht Automatisierung immer nur mit den Menschen

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Birgit Vogel-Heuser, Ordinaria des Lehrstuhls für Automatisierung und Informationssysteme der TU München

Die TiB sprach mit Prof. Vogel-Heuser über den Stand und die Bedeutung der Automatisierungsforschung in Deutschland. Im Gespräch ging es dabei auch um KI in automatisierten Produktionsanlagen, Nachhaltigkeit von Automatisierungssystemen und die Veränderungen im Berufsbild des Ingenieurs. Ob die Befürchtungen über die Automatisierung als Jobkiller eingetreten sind und welchen Stellenwert die Automatisierung in der Zukunft hat erfahren Sie im nachfolgenden Interview.

Technik in Bayern: Frau Prof. Vogel-Heuser: Welche wirtschaftliche Bedeutung hat die Automatisierung?

Prof. Birgit Vogel-Heuser: Wir haben in Deutschland allein durch die vielen weltweit führenden automatisierungstechnischen Unternehmen wie beispielsweise Liebherr, Siemens, Rexroth, Peppel & Fuchs einen Riesenvorteil. Und wenn wir Automatisierung breit definieren, haben wir in Deutschland nicht nur Produktion-, sondern auch Prozess- und Produktautomatisierung. Da entwickeln diese Unternehmen eine extrem große Kraft – nicht nur für den Wirtschafts-, sondern auch für den Hochschul-Standort Deutschland. Für uns Automatisierungsforscher ist das eine tolle Situation.

TiB: Sie sprechen die Forschung an. Gibt es hier weltweit Unterschiede?

Vogel-Heuser: Bemerkenswerterweise ja: Die deutsche Automatisierungstechnik an der Uni ist anders als die internationale Automatisierungstechnik. Die Amerikaner machen mehr Regelungstechnik, die sind viel theoretischer, die Spanier machen mehr Echtzeitsysteme. Wir sind mit der deutschen Automatisierungstechnik in einer ganz prominenten Position. Es wird nirgendwo sonst so gelehrt und es gibt bei uns auch keine Lehrbücher auf Englisch, es ist alles sehr deutsch. Aber ich wiederhole mich gerne: Wir sind hier in einer phantastischen Lage.

TiB: Wie könnten Sie die Forschung weiterentwickeln?

Vogel-Heuser: Dieses Thema liegt mir sehr am Herzen und ich bin sozusagen die „Rädelsführerin“ von „Theorie und Lehre in der Automatisierungstechnik = TuLAUT“. Diesen Club haben wir 2006 gegründet, weil wir dachten, die Automatisierungstechniker sollten sich untereinander besser synchronisieren. Diese Idee finde ich immer noch gut und wir machen z. B. Curriculumsabgleich, oder wir informieren uns darüber, welche Doktoranden welche Themen behandeln. Wir möchten hier Synergien schaffen und bei den wenigen Automatisierungslehrstühlen in Deutschland sollten wir die größtmögliche Schlagkraft entwickeln. Extrem spannend ist der Vergleich der unterschiedlichen internationalen Curricula mit den deutschen.

TiB: Welchen Stellenwert hat Automatisierung innerhalb des Produktionsprozesses?

Vogel-Heuser: Automatisierung ist ja erst einmal ein etwas angestaubter Begriff. Als ich meinen Lehrstuhl umbenannte, der hieß damals Informatik im Maschinenwesen, fragten mich die Kollegen zunächst, ob ich etwas anderes machen würde. Automatisierung würde doch altmodisch klingen. Das stimmt vielleicht für Deutschland, aber international ist Automation ein innovatives, sehr modernes Wort. In der IEEE gibt es eine Robotics and Automation Society, und unser neuer Studiengang hier in der Fakultät heißt Mechatronik + Robotik. Da ist die Automatisierung mit enthalten und die ist für mich nach wie vor spannend.

Verschiedene Bereiche der Automation erfahren jetzt eine Renaissance; schon seit 2003 haben wir zusammen mit den Kollegen in Stuttgart das Thema Agenten – selbstlernende Systeme/verteilte Systeme behandelt. Das Thema wird in Zusammenhang mit Industrie 4.0 gerade wieder modern. Auch die KI beschäftigt uns schon seit Ende der 1980er Jahre. Wir müssen aber gut aufpassen, wenn wir wieder einmal so ein Schlagwort bedienen, denn heute heißt es KI hilft gegen alles, aber so ist es ja nicht. Glücklicherweise haben wir uns in den letzten 15 Jahren viele dieser Methoden, die wir für Industrie 4.0 brauchen, schon angeeignet.

TiB: Wie würde denn eine KI in einer automatisierten Produktionsanlage lernen?

Vogel-Heuser: Ein Beispiel: Wir haben einen Versuchsstand mit den gesammelten Daten von Anlagen und Versuchsständen aus der verfahrenstechnischen Industrie, um Fehlerbilder von defekten Ventilen zu erzeugen. Aus diesen Erfahrungsdaten können wir lernen. Nachdem hier aber verschiedene Ventiltypen verbaut sind, stellt sich die Frage, was wir Ventiltyp- bzw. herstellerübergreifend daraus lernen können. Das funktioniert nur, wenn wir eine Klassifikation von Ventilfehlern machen. Tatsächlich mussten wir in den Versuchsstand dann bewusst fehlerhafte Ventile einbauen, um die Muster zu sehen. In der Praxis will natürlich niemand, dass eine Anlage steht, deshalb werden die Ventile regelmäßig lange vor dem Ausfall ausgetauscht. Diese Anlagen sind quasi „überwartet“, das kostet Zeit und Geld. Ein Ergebnis unserer Forschung war, dass zur genaueren Vorhersage von Fehlern zusätzliche Sensoren in die Ventile eingebaut worden sind und die beteiligten Unternehmen, Vertilhersteller und Betreiber, zusammengearbeitet haben. Das war sehr erfreulich.

Grundsätzlich ist die Frage nach der Zukunft der KI natürlich ein Blick in die Glaskugel. Aus der Datenanalyse kann ich vieles herauslesen, wie Amazon und andere Unternehmen beweisen. Für die Aufgabenstellung an Ingenieure bin ich allerdings der Überzeugung, dass nur aus Daten lernen nicht reicht. Der reine Datenanalyse-Ansatz wird nicht zum Ziel führen. Hier fehlt doch die Klassifizierung aus Modellwissen und die Nutzung der Engineeringdaten.

TiB: Zukünftig sollen in der Industrie 4.0 automatisierte Produktionsanlagen mannlos laufen. Geht das?

Vogel-Heuser: Die Grundidee von Industrie 4.0 ist sehr einfach: Jede Anlage hat einen Agenten, einen Stellvertreter, der nach außen sagt, was die Anlage kann, ob sie läuft, welche Auslastung sie hat usw. Dann gibt es den Kunden, der einen Preis für seinen Auftrag hat, und wenn der Preis hoch genug ist, kann man in der Anlage vielleicht einen anderen Auftrag nach hinten schieben und den gut dotierten Auftrag annehmen.

Alles funktioniert in einer idealen Welt gut und bei den Demonstratoren auch vollautomatisiert. Aber Automatisierung ist ein ambivalenter Begriff und für mich beinhaltet Automatisierung immer den Menschen und stellt diesen in den Mittelpunkt. Bei uns geht es nicht um den mannlosen Betrieb, sondern wir wollen die Automatisierung an die Orte bringen, an die der Mensch nicht hin muss: seien sie zu schmutzig, zu laut, zu heiß oder zu kalt, die Arbeiten zu schwer oder zu gefährlich.

Wir wollen den Menschen unterstützen. Unterstützen heißt aber auch, dass ich die Menschen nicht in eine Leitwarte setze, in der sie gefühlt alle zehn Stunden einen Knopf drücken müssen. Das ist Unterforderung. Ich muss mir also überlegen, wie ich die Aufgabe für den Menschen so gestalten kann, dass er vernünftig eingebunden ist und seinen Fähigkeiten entsprechend agieren kann.

TiB: Welche Funktionalitäten werden neben einem automatischen Werkstück- und Werkzeugwechsel von automatisierten Produktionsanlagen erwartet?

Vogel-Heuser: Eigentlich kann man hier kurz sagen: Self-X. Das bedeutet, die Anlage kann alles selbst, sie weiß alles und sie optimiert sich auch selbst. Das X heißt: Self-Aware, Self-Adaptive, Self-Efficient etc. In der Industrie wird häufig von „Overall Equipment Effectiveness (OEE)“ gesprochen. OEE hat drei Ebenen. Die oberste Ebene bedeutet: Wenn die Anlage steht, produziert sie nicht und diesen Stillstand muss ich vermeiden. Eine weitere Ebene ist, dass die Anlage keine Qualität produziert, das ist wie Nichtproduktion. Die dritte Ebene ist, dass die Anlage nicht schnell genug produziert. Die Idee hinter OEE in automatisierten Anlagen ist, den Wert aller Ebenen zu verbessern.

TiB: Welche Forschungsschwerpunkte sehen Sie im Umfeld der Automatisierung und welche davon finden Eingang in die industrielle Praxis?

Vogel-Heuser: Bei uns wird an der modellbasierten Entwicklung, an intelligenten, verteilten Systemen, Big Data und dem Mensch-Maschine-Interface geforscht. Um überhaupt gute Automatisierungssysteme machen zu können, gehen wir im Moment relativ stark in die Software. Software nimmt zu und bei Software sehen wir ganz stark das Thema Varianten-/ Versionsmanagement. Hier gab es auch schon interessante Forschungsprojekte wie „Design for Future – managed software evolution“. Das Problem ist evident, denn wie sollen wir bei Anlagen, die schon 30 bis 40 Jahre laufen, nach 20 Jahren die Software updaten?

Tatsächlich gibt es hier nur die Lösung, die alte Hardware durch neue CPUs mit aktueller Software zu ersetzen, mit all den möglichen Seiteneffekten. Wenn wir es nicht in den Griff kriegen, unsere Software besser zu managen, dann haben wir ein echtes Problem.

TiB: Sie sprechen hier einen Nachhaltigkeitsgedanken aus. Wie verträgt sich das mit der Tatsache, dass oft das billigste und nicht das beste Produkt geordert wird?

Vogel-Heuser: Ich sehe hier tatsächlich eine erfreuliche Entwicklung, denn beispielsweise im Anlagenbau kaufen viele Kunden heute nicht mehr die billigste Anlage, sie fordern vielmehr, dass die Anlage läuft. Und dann ist es auch sinnvoll und wirtschaftlich darstellbar, qualitativ besseres Equipment zu verbauen. Ich hoffe sehr, dass sich diese Denkrichtung durchsetzt.

TiB: Welche veränderten Anforderungen ergeben sich für die Ausbildung des Ingenieurs und gibt es neue Berufsbilder?

Vogel-Heuser: Sehr wichtig für angehende Ingenieure wird sein, dass zwischen den verschiedenen Disziplinen ein besseres Verständnis herrscht. Wir haben dazu auch einen eigenen Forschungsbereich, denn die Zusammenarbeit von Elektroingenieuren und Maschinenbauern war noch nie besonders harmonisch, und seit 15 Jahren kommen noch die Informatiker dazu. Wir sollen die mechatronischen Systeme der Zukunft entwickeln und dazu müssen wir die unterschiedlichen Disziplinen unter einen Hut bringen. Das ist eine große Herausforderung.

Wir stellen uns auch die Frage: Was tun wir als Lehrende dazu? In Bezug auf neue Berufsbilder gibt es gerade eine neue acatech-Initiative, die sich „Advanced System Engineering“ nennt. Natürlich ist der Ansatz richtig, auch wieder Generalisten auszubilden neben dem reinen Spezialistentum. Ganz wichtig finde ich die Teamarbeit, z. B. in Form von studentischen Wettbewerben. In unserem neuen Masterstudiengang „Maschinenbau“ gibt es jetzt ein sog. Projekt und das wäre das richtige Format z. B. für praxisorientierte Teamarbeit.

TiB: Automatisierung wurde von Anfang an als Jobkiller bezeichnet. Was ist von den damaligen Befürchtungen eingetreten?

Vogel-Heuser: Das Thema Jobkiller ist natürlich immer noch ein Thema und klar ist auch, dass nicht jeder ein Ingenieur werden kann. Und auch für den Berufsstand der Ingenieure gibt es Hiobsbotschaften aus den Reihen der KI-Anhänger.

Aber zur Problematik der Automatisierung als Jobkiller denke ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Hier sind ganz viele Arbeitsplätze entstanden, die es früher gar nicht gegeben hat. Denken Sie an das weite Feld der Maintenance. Auch in den Lehrberufen müssen die Auszubildenden heute immer mehr automatisierungstechnische und digitalisierungstechnische Inhalte lernen. Die Idee von der Humanisierung der Arbeit und dass dann alle Jobs wegfallen und nur noch Maschinen werkeln, hat doch einen Pferdefuß.

TiB: Welchen Stellenwert hat die Automatisierung in der Zukunft?

Vogel-Heuser: Was meine Kollegen und ich auch in der TuLAUT nicht so gern sehen ist, dass die Automatisierung ganz stark von der Informatik „aufgerollt“ wird. Man könnte orakeln und sagen, dass es irgendwann keine Automatisierer, sondern nur noch Informatiker geben wird. Ich glaube, dass wir viele eigene Erkenntnisse haben, die Informatiker so nicht haben. Vielleicht wird die Automatisierung auch anders bezeichnet, aber ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Inhalte noch sehr lange zukunftsfähig sein werden.

TiB: Frau Prof. Vogel-Heuser, vielen Dank für dieses schöne Gespräch.

Das Interview führten Fritz Münzel, Klaus Finkenwirth und Silvia Stettmayer

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Mai/Juni