Beitrag von Dipl.-Ing. Jean Haeffs, Geschäftsführer VDI Gesellschaft GPL, Düsseldorf
Mittlerweile leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Dieser anhaltende Trend zur Urbanisierung fordert eine Veränderung der zukünftigen Städteentwicklung. Wie die Produktion und Logistik in den Städten der Zukunft aussehen kann, welche Vorteile und Herausforderungen damit verbunden sind und welche Lösungsansätze es gibt erfahren Sie im nachfolgenden Beitrag.
Bereits heute lebt mehr als die Hälfte der sieben Milliarden Erdbewohner in Städten. Das Jahr 2008 markierte hier einen historischen Wendepunkt: Es leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Auch in Zukunft wird sich der Trend zur „Urbanisierung“ laut Untersuchungen der Vereinten Nationen ungebremst fortsetzen und dieser Anteil auf knapp 70 Prozent ansteigen. Schon deshalb müssen die Städte von morgen nachhaltig, lebenswert und zukunftsfähig werden. Um das zu erreichen, kann und muss ein Aspekt die urbane Produktion im Ballungsraum sein.
Produzierende Unternehmen wurden in den vergangenen 100 Jahren zunehmend aus dem Stadtbild verdrängt. Vor allem hohe Grundstückspreise und wenig Verfügbarkeit in den Ballungsräumen, zunehmende Mobilität der arbeitenden Bevölkerung und Umweltaspekte (Image der „dreckigen“ Produktion) führten zu dieser Entwicklung. Die Entwicklung zog jedoch auch eine Entfremdung weiter Teile der Gesellschaft von Standorten für Produktion und Logistik nach sich.
Die Vorteile urbaner Standorte sind vielfältig. Tendenziell bieten die städtischen Räume ein höheres Maß an qualifizierten Fachkräften und Hochschulabsolventen; die Nähe zu Lieferanten und Dienstleistern vereinfacht die Kommunikation und Kooperation mit Zulieferern und Kunden und kann damit eine Grundlage für mehr Innovation und Effizienz sein; die Nähe zu Forschungs- und Technologiezentren wie Forschungsinstituten und Hochschulen im städtischen Umfeld erleichtert den Zugang zu Wissen und Innovation und dessen Transfer ins Unternehmen.
Zudem bietet die Stadt aufgrund tendenziell kurzer Wege für die Mitarbeiter nicht nur neue Möglichkeiten zur Arbeitszeitflexibilisierung und für neue Arbeitszeitmodelle, sondern auch neue Ansätze für z. B. die Entgrenzung bei Erreichen der Ruhestandsaltersgrenze: so könnten bereits aus dem Berufsleben ausgeschiedene Mitarbeiter kurzfristig reaktiviert werden, die dann „kurz im Betrieb vorbeischauen“, um Spitzenlasten mit auszugleichen, Probleme zu lösen oder jüngeren Mitarbeitern aufgrund ihrer größeren Erfahrung Hinweise zu geben und auf diese Weise den Wissenstransfer zu verstetigen.
Kurze Wege und flexible Arbeitszeitmodelle ermöglichen zudem für alle eine Verbesserung der Integration von Arbeit und Privatleben sowie eine Weiterentwicklung der Integration von Arbeit und Familie. Damit entstehen neue Möglichkeiten für die Betreuung und Pflege von Angehörigen wie Kindern, Kranken und Senioren sowie z. B. für die integrative Ausübung von Freizeitaktivitäten.
Werden Güter für die unmittelbare Umgebung des Produktionsstandorts hergestellt, können weitere Vorteile durch die Nähe zum Absatzmarkt sowie zu den einzelnen Kunden erzielt werden. Die räumliche Nähe verringert Aufwand in der Logistik und unterstützt die Vermeidung energieintensiver Transporte durch die lokale Produktion. Die Nähe zum Kunden vereinfacht auch dessen Einbindung in Unternehmensprozesse (Beispiele sind das „Customizing“ und die „Stückzahl 1“) und unterstützt damit auch eine engere Bindung des Kunden an das Unternehmen. Modelle zur gemeinsamen Nutzung von Energie, Wärme, Kälte usw. sowie von Infrastruktur werden aktuell nur als visionäre Konzepte verfolgt; daraus ergeben sich weitere ökonomische und ökologische Potenziale.
Allerdings bringen Standorte in der Stadt auch einige Nachteile mit sich: Die tendenziell hohe Zahl an Staus in Ballungsräumen führt zu einer schlechten Erreichbarkeit der Unternehmen. Weitere Nachteile können aus einer mangelnden Verfügbarkeit von Flächen sowie den meist hohen Flächenkosten resultieren, die zu höheren Fixkostenanteilen für Unternehmen führen, die im urbanen Raum produzieren.
Altlasten in den Böden und Flächennutzungskonflikte (Beispiel: Wohnungsbau) sind weitere Faktoren, die den Erhalt und Ausbau von Produktionsbetrieben in urbanen Räumen erschweren. Hinzu kommt die fehlende Akzeptanz der Anwohner, Industriebetriebe in ihrer Nähe zu dulden. An vielen Orten in Deutschland gibt es strategische Rahmenpläne für Industrieentwicklung. Häufig fehlt die konsequente Verknüpfung von Wirtschafts-, Stadt- und Kulturentwicklung. Gleichzeitig sind die Voraussetzungen von Stadt zu Stadt höchst unterschiedlich.
Die Lösung liegt in der (Re-)Integration von Produktion und Logistik in die Ballungszentren und in das alltägliche Leben der Bewohner, denn wir brauchen die Renaissance der urbanen Produktion – also die Herstellung, die Verarbeitung und der Versand materieller Güter in dicht besiedelten Gebieten.
Das übergeordnete Ziel dabei ist die physische Verschmelzung von Produktionsort, Arbeits- und Absatzmarkt im Umfeld städtischer Ballungsräume. Zudem geht es um die optimale räumliche Verteilung kompletter Produktionsprozesse im urbanen Ballungsraum. Denkbar ist beispielsweise die Herstellung von Vorprodukten und Komponenten außerhalb und die Endmontage oder Konfiguration individueller Produkte in Kundennähe in der Stadt.
Um zu solchen langfristig optimierten Lösungen zu gelangen, sind kreative und ganzheitliche Ansätze erforderlich, welche die Chancen nutzen und die Risiken minimieren. Diese Ansätze zu denken, zu planen, zu realisieren und zu betreiben ist nicht zuletzt Aufgabe von Ingenieuren.
Diese zunehmende räumliche Konzentration in Ballungszentren erzwingt ein Umdenken in vielen Bereichen, insbesondere bei der Stadtentwicklung und -planung. Damit unsere Städte auch morgen noch lebenswert sind, brauchen wir nachhaltige Zukunftskonzepte, u. a. die (Re-) Integration von Produktion und Logistik in den urbanen Alltag.
Noch vor hundert Jahren waren produzierende Unternehmen selbstverständlicher Teil des Stadtbildes. Eine funktionierende Symbiose aus Wohnen und Wirtschaft prägte die Strukturen der Regionalzentren. Leben und Arbeiten waren untrennbar miteinander verbunden – so schien es zumindest.
Schleichend, aber unaufhaltsam wurden die Firmen jedoch aus den Städten verdrängt. Vor allem schrumpfende Flächen und gleichzeitig steigende Grundstückspreise in den Ballungsräumen, die Entwicklung von Industriegebieten in den Außenbereichen der Ballungsräume aber auch die zunehmende Mobilität der arbeitenden Bevölkerung und schärfere Umweltvorschriften trieben diese Entwicklung voran.
Verbunden sind damit eine ganze Reihe negativer Entwicklungen:
Diesen komplexen, dynamischen Veränderungsprozessen ist das bisherige Konzept der außerstädtischen, zentralen Produktion für den weltweiten Markt nicht mehr gewachsen. Erforderlich ist stattdessen ein alternativer Lösungsansatz mit Fokus auf die Reintegration von Produktion und Logistik in die Ballungszentren und in das alltägliche Leben der Bewohner, mit anderen Worten: die Renaissance der Urbanen Produktion.
Grundsätzlich versteht man unter „Urbaner Produktion und Logistik“ die Herstellung, die Verarbeitung und den Versand von materiellen Gütern in dicht besiedelten Gebieten. Ziel ist die physische Verschmelzung von Produktionsort, Arbeits- und Absatzmarkt im Umfeld städtischer Ballungsräume.
Die urbane Produktion bringt strategische Vorteile für alle Stakeholder. Beispielsweise bergen städtische Räume die weitaus größten Reserven an qualifizierten Fachkräften und Hochschulabsolventen – deren Mangel ist derzeit einer der akuten Wachstumsbremsen unserer Wirtschaft.
Zudem werden die Wege im Netzwerk von Kunden, Lieferanten und Dienstleistern kürzer, was die Kommunikation und aktive Kooperation miteinander vereinfacht. Auch die Nähe zu Forschungs- und Technologiezentren im städtischen Umfeld ist nicht zu unterschätzen. Dies erleichtert den Zugang zu Wissen und Innovation und den Transfer in die Unternehmen hinein.
Aber, es wäre unredlich, die nicht unerheblichen Herausforderungen zu verschweigen, die mit einer Zunahme von Produktion in der Stadt verbunden sind. Natürlich wecken neue Hochspannungsleitungen, Windparks, Flughäfen und Bahnhöfe sowie viele andere Großprojekte regelmäßig Widerstand in der Bevölkerung. Daher verlangt die Nähe zum Wohnen emissionsärmere und ressourceneffizientere Standorte als heute üblich.
Doch genau diese – und darüber hinaus viele weitere – Fragestellungen sollen erörtert werden, wenn alle am Prozess Beteiligten zur Diskussion und Lösungsfindung an einen Tisch kommen. Im Mittelpunkt müssen dabei die Argumente stehen, die für eine stärkere Integration produzierender Industrie und Logistikunternehmen in den Ballungsräumen sprechen und die Voraussetzungen, die für eine erfolgreiche Umsetzung erfüllt sein müssen. Das möchte der VDI initiieren.
Der VDI vertritt hierzu 3 Standpunkte:
Ziele des VDI-Fokusthemas
1. Produktions- und Logistikstandorte müssen stadtnah (wieder) möglich sein.
2. Unternehmen, Stadtverwaltung und Behörden müssen insbesondere in den Ballungsräumen Wohnen und Arbeiten in räumlicher Nähe möglich machen.
Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Januar/Februar