Unser Ziel ist das ganzheitliche Konzept

Produktion in den Städten der Zukunft

Interview mit Prof. Dr.-Ing. Johannes Fottner, Inhaber des Lehrstuhls für Fördertechnik Materialfluss Logistik (fml) der TU München und Stellvertretender Vorsitzender der VDI-Gesellschaft Produktion und Logistik (GPL)

Die TiB sprach mit Prof. Dr.-Ing. Johannes Fottner über die Herausforderungen des VDI-Jahresthemas „Produktion in der Mitte der Gesellschaft“. Im Gespräch ging es um den Stand der derzeitigen Warenversorgung im städtischen Raum, aktuelle Herausforderungen in der Technischen Logistik und darum, wie die Rückkehr von Produktionsstätten in den Urbanen Raum zukünftig wieder gewährleistet werden kann.

Technik in Bayern: Das VDI Jahresthema wurde aus den Ergebnissen einer unabhängigen Studie der VDI-Gesellschaft Produktion und Logistik (GPL) entwickelt. Können Sie für unsere Leser die Ergebnisse kurz zusammenfassen, und wie interpretieren Sie diese?

Prof. Johannes Fottner: Diese Studie wurde schon 2012 entwickelt aus der Fragestellung: Was sind eigentlich wichtige Standortfaktoren für den Wirtschaftsstandort Deutschland 2025. Eine der ersten Erkenntnisse war, dass wir niemals ein reiner Engineering-Standort sein werden, sondern immer die Kombination aus Engineering und Wertschöpfung. Dann hat man sich gefragt, was das eigentlich bedeutet und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet. Sehr schnell wurde klar, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, in der wir zwischen Produktion und Menschen zu sehr unterscheiden.

Produktion ist aber immer eng verbunden mit Menschen, ob als Arbeitskräfte oder als Kunden, und wird es auch über sehr lange Zeit noch bleiben. Als logische Konsequenz ergab sich dann sehr zügig der Gedanke „Produktion und Logistik in der Mitte der Gesellschaft“. Wir wollen die Menschen – sprich die Arbeiter – mit der Produktion – sprich den Arbeitsplätzen – wieder zusammenführen. Damit ist gemeint, Produktions- und Logistikeinheiten so zu gestalten, dass sie wieder kompatibler sind, sowohl was die Technikakzeptanz der Menschen betrifft als auch von Seiten der Technologie.

Die Vorstellung der Menschen ist, stadtnah zu leben und da müssen unserer Meinung nach auch die Produktionen stattfinden. Und es geht noch eine Stufe weiter: Die Verbraucher sind heute gewöhnt, dass wir Verteilprinzipien haben, die auch sehr weit in den urbanen Raum reichen, sprich wir wollen nicht nur Läden, sondern auch Distributionszentren haben. Wir wollen die Dinge da verfügbar haben, wo wir sind. Wenn das Verteilzentrum in einer Region ist, wo zwar große Flächen, aber weder Kunden noch Arbeitskräfte sind, dann ergibt das wenig Sinn. Wir müssen sicherstellen, dass die gesamte Warenversorgung von der Produktion bis zur Distribution zum Endkunden in erreichbaren Entfernungen, also dem stadtnahen Raum stattfindet.

TiB: Ist Warenversorgung im stadtnahen Raum heute nicht ausreichend gewährleistet?

Prof. Fottner: Nein, diese Nähe ist zurzeit bei weitem nicht ausreichend. Momentan haben wir noch die Tendenz, alles, was mit Produktion zusammenhängt, möglichst weit weg vom Menschen zu verlagern. Produktion wird meist mit Störungen, mit Umweltbelastungen, mit viel Verkehr verbunden. Aber unsere Aufgabe ist es, uns Gedanken darüberzumachen, wie wir diese Produktion und die Ver- und Entsorgung dieser Produktion so umwelt- und sozialverträglich wie möglich gestalten, damit wir sie wieder näher bei den Menschen ansiedeln können.

TiB: Ein Schwerpunkt an Ihrem Lehrstuhl ist die Technische Logistik. Welche Herausforderungen ergeben sich für diesen Bereich aus dem VDI Jahresthema?

Prof. Fottner: Die Herausforderungen sind vielfältig. Wir versuchen gerade an der TUM ein sehr großes interdisziplinäres Projekt zu starten, das sich mit diesem Mobilitätsgedanken beschäftigt. Und wenn wir von Mobilität sprechen, dann gehört natürlich Warenversorgung dazu. Lassen Sie es mich so sagen: Wie kann ich es schaffen, eine signifikante Menge von Menschen zu den Fabriken zu bringen, die wiederum in einer Umgebung von Menschen sind und anschließend die Waren von dort wegzubekommen und wieder zu den Menschen zu bringen, ohne, dass beides den Menschen fürchterlich auf die Nerven geht? Das ist in der Logistik ein großes Thema, denn es ist die enge Verknüpfung von spannenden Technologien mit effizienten Prozessen.

Und Logistik wird sich jetzt sehr stark als prozessorientiert verstehen. Unsere Aufgabe ist, Logistik so zu optimieren, dass man Effizienz erreicht und wenn man dies jetzt noch koppelt mit moderner, guter, vernetzter Technologie, die diese Effizienzen nochmals unterstützt, dann hat man sehr flexible und schlagkräftige Optionen zur Realisierung. Wir möchten in diesem Forschungsvorhaben die Mobilität in Ballungsräumen generell darstellen, vom Kuriertransporter über den Individualverkehr bis zum öffentlichen Nahverkehr. Das soll als eine Einheit dargestellt werden und die Überlegung geht dahin, wie man das steuern und abbilden kann. Das ist sicherlich ein sehr wichtiges Thema, dem wir uns in Zukunft stellen, auch vor dem Hintergrund, was denn eigentlich die richtigen Verkehrsträger sind. Fahren wir mit großen Trucks oder mit kleinen dezentralen, vielleicht autonom fahrenden Einheiten?

Wir brauchen hier ein Portfolio unterschiedlicher Technologien. Denn Technologie steht nie alleine, sie funktioniert in einem Prozess und das muss man alles zusammenführen. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, Organisationsstruktur im Prozess mit Technologie zu verheiraten.

TiB: Erforschen Sie diese Abläufe vorwiegend auch durch Simulationen?

Prof. Fottner: 75 % unserer Forschung erfolgt sehr eng mit realen Partnern, meist Industrieunternehmen und anderen Forschungseinrichtungen. Unsere Forschungsarbeit ist extrem interdisziplinär, d.h. wir brauchen die Elektrotechniker, um vernünftige Sensoren und Motoren zu entwickeln, die Informatiker um programmieren zu können, wir brauchen die Betriebswirtschaftler, damit wir Optimierungsverfahren anstoßen können und auch, um die Wirtschaftlichkeit errechnen zu können, die Mathematiker und die Ergonomen, damit unsere Produkte auch nutzbar sind und auch Psychologen und Soziologen, die die Auswirkungen der Technik beurteilen.

Natürlich machen wir sehr viel Methodisches anhand von Simulationen, aber am Ende kann man nicht alles simulieren. Überspitzt ausgedrückt sind wir noch nicht ganz fertig mit der Industrie 4.0. Wir haben noch den einen oder anderen Menschen, der kommissioniert, der Dinge beschafft. Die Fragestellung lautet: Wie helfen wir diesem Menschen und welche Technologien müssen wir entwickeln, die diesen Menschen in diese vernetzte Welt mit einbinden? Diese Technologien muss ich aber anschließend testen und dann stellen sich Fragen wie: funktioniert das überhaupt? Ist das ergonomisch? Ist das intuitiv?

Wir haben einen demographischen Wandel und ich muss auch stärker auf Leistungsdefizite von Menschen eingehen. Das alles kann ich tatsächlich nicht in der Simulation. Dazu brauche ich dann Feldtests und Studien; alle Instrumente, die man aus der Wissenschaft kennt. Und dass wir die ganze Bandbreite abbilden können – von der theoretischen Modellbildung, der Simulation, von analytischen Formeln bis hin zu den Assistenzsystemen am Gabelstapler, die in der Halle getestet werden und neuen Beladeprinzipien, mit denen ich Menschen unterstützen kann, das alles macht die Arbeit an diesem Lehrstuhl so spannend.

TiB: Gibt es denn schon Modellvorstellungen, die Städte in puncto Warenfluss und Logistik optimieren?

Prof. Fottner: Diese Konzepte gibt es, aber sie beziehen sich meist auf Modellstädte und bedingen quasi eine völlige Umstrukturierung der Infrastruktur. Bei gewachsenen Städten muss man die Technologien in der vorhandenen, aber optimierten Infrastruktur nutzen.

Wenn Sie den Zeitraum heute in 100 Jahren annehmen, dann ist die Lösung einfach, denn dann gibt es autonomes Fahren und ich habe 99 % autonom gesteuerte Fahrzeuge, die ich perfekt koordinieren kann. Unser Problem heute ist doch dieser Wandel. Wir gehen vom heutigen Zustand 0 in einen Zustand 1 in 100 Jahren und dieser Übergang ist ungeheuer schwer. Und für diesen Übergang brauchen wir sicher dreimal so viel Technik, wie für den Zustand 1 selbst.

Und Technologie alleine reicht hier nicht aus, sondern wir brauchen vernünftige Prozesse und Organisationsstrukturen. Nehmen Sie das Thema Energiewende: Firmen können vielleicht dann gar nicht mehr so produzieren wie heute, weil der Strom nicht mehr jederzeit zur Verfügung steht. Aber wenn ich jetzt flexible Konzepte anwenden möchte, dann können doch meine Mitarbeiter nicht 120 km aus dem Umland an ihren Arbeitsplatz pendeln. Alleine um diese Flexibilität darstellen zu können, brauche ich eine gewisse Nähe.

TiB: Der Individualverkehr stellt ein signifikantes Problem dar. Wie sieht es beim immer weiterwachsenden Warenverkehr aus?

Prof. Fottner: Für die älteren Generationen war das eigene Fahrzeug zu bewegen Ausdruck der Freiheit, sprich: „Der Weg ist das Ziel“. Wir müssen von dieser Individualentscheidung weg. Die junge Generation kommt hoffentlich zu der Erkenntnis, dass das Ziel das Ziel ist. Denn auch die Mobilität im urbanen Raum verändert sich bereits. Beim Warenverkehr wird schon untersucht, ob es wirklich notwendig ist, dass jede größere Kette ihren eigenen Kurierdienstleister hat. Die Realität ist ja, dass heute viele Ziele mehrmals am Tag angefahren werden. Hier bräuchte ich eigentlich verpflichtende Koordinationen, die sicherstellen, dass man für einen bestimmten Straßenzug an einer bestimmten Stelle noch einmal umverteilt.

TiB: Wie könnte das realisiert werden?

Prof. Fottner: Das Zukunftsszenario sieht wohl so aus, dass der Kurierdienst mir Waren bringt, die ich online bestellt habe. Das ist schon heute der Hauptgrund, warum wir mit LKW und Transportern innerstädtisch unterwegs sind. An welchem Ort ich diese große Menge umverteile, ist unerheblich, aber dann geht es um die bereits angesprochene Wahl der richtigen Verkehrsträger, die die große Menge dahin bringt, wo die Menschen leben. Diese möglichen Konzepte der Warenverteilung versuchen wir gerade gemeinsam mit den Verkehrswissenschaftlern und den für die Infrastruktur verantwortlichen Bauingenieuren und den Informatikern und den Maschinenbauern durchzurechnen.

TiB: Die Verkehrsströme der Mitarbeiter könnte man aber auch optimieren?

Prof. Fottner: Durch die räumliche Nähe des Mitarbeiterstammes wäre schon viel gewonnen und vielleicht ließe sich das auch mit einigen Infrastrukturmaßnahmen kombinieren. Beispielsweise könnte man die Distribution der Waren gleich in der Umgebung von größeren Fabriken ansiedeln, um einen effizienteren Warenumschlag zu haben. Unser Ziel ist es, die natürliche Nähe von Mensch und Produktion wieder herzustellen und nicht das Gegenteil, dass ich beide extrem weit voneinander entferne. Und wir wollen die Warenverteilung in das Konzept mit einbeziehen.

Ganz wichtig ist auch, dass man mit vernünftigen Infrastrukturmaßnahmen, die nicht immer nur Straßen und Parkplätze heißen, ein vernünftiges Mobilitätskonzept unterstützt. Dies ist ein Kernpunkt des Konzeptes Urbane Produktion und Logistik. Es gilt ganzheitlich Produktion, Technologie, Warenversorgung und Warenentsorgung mit Infrastrukturmaßnahmen und Mobilitätskonzepten zusammenzubringen. Nur wenn ich das als gesamtheitliches System sehe, wird es funktionieren. Und dazu muss ich Städte nicht umbauen, sondern ich muss in bestehenden Städten sinnvolle Konzepte auch für Gewerbetreibende und Industrie entwickeln.

TiB: Es gibt viele Gründe, warum das Produzierende Gewerbe aus den Städten verbannt wurde. Ist die heutige Technik wirklich ausgereift genug, um die Rückkehr von Produktionsstätten in den Urbanen Raum zu gewährleisten?

Prof. Fottner: Wir haben in München einen starken Industriestandort und mit der TA Luft* und der TA Lärm* sind funktionierende Regularien geschaffen worden. Das, was wir an Distribution, an Warenverteilung und Montagevorgängen haben, ist heute sehr gut verträglich auch näher am Menschen ansiedelbar. Wir haben doch mit BMW und seinem Werk mit schwersten Maschinen und Presswerken mitten in München ein wunderbares Beispiel. Natürlich gibt es emmissionstarke Produktionsverfahren, wie z. B. den Leichtmetallguss, aber man muss wirklich nicht alles innerstädtisch produzieren.

* TA Luft/TA Lärm = Technische Anleitungen (allgemeine Verwaltungsvorschriften) zur Reinhaltung der Luft und zum Schutz gegen Lärm

TiB: Wie können sich Stadtplanung und Logistikunternehmen wieder enger in der Logistikkonzeption abstimmen?

Prof. Fottner: Wir brauchen ein stärker koordiniertes System, die bessere Abstimmung beispielsweise der Lieferdienste haben wir schon angesprochen. Aber wir sind ja heute schon weiter als früher. Da hat sich jeder in sein Auto gesetzt, ist zu einem Markt gefahren, hat einige Gegenstände gekauft und ist wieder nach Hause gefahren. Wenn wir annehmen, dass nur 10 % der Käufer die Waren jetzt online bestellen und diese dann von nur noch einem Transporter gebracht werden, dann haben wir schon einen großen Gewinn. Diese Anlieferung ist bei weitem nicht so negativ, wie sie oft dargestellt wird, denn wir entlasten damit unsere Infrastruktur erheblich.

TiB: Eigentlich müssten sich zur Realisierung der „Produktion wieder näher am Menschen“ nach dem klassischen Stakeholder-Prinzip alle Beteiligten zusammensetzen. Wie sieht es damit in der Realität aus?

Prof. Fottner: Es gibt heute schon sehr viele, sehr gute Ansätze, wo sich mehrere beteiligte Parteien zusammenfinden, leider sind natürlich nicht alle Parteien dabei. Um das Gesamtsystem zu optimieren, hat sich das „Stufe-zu-Stufe-Prinzip“ bewährt, denn ich muss die Menschen mitnehmen. Hier kann ich nicht von heute auf morgen gewohnte Verhaltensweisen, z. B. beim Einkaufen, per Dekret umwandeln. Disruptive Prozesse funktionieren auf einen längeren Zeitraum und ich muss mein Ziel im Auge behalten und die Schritte dahin gehen. Entscheidend ist immer die Zielgröße und nicht die Ursprungsbedingung. Aus wissenschaftlicher Sicht müssen wir auch die Pfadtheorie berücksichtigen, die auch die Beharrungskräfte technisch veralteter Systeme beschreibt. Dadurch werden Systeme immer weiter suboptimiert und von solchen Pfaden kommen sie nur mit größter Mühe weg.

Um ein Projekt zu realisieren, brauchen Sie eine sehr enge, funktionierende Koordination und daher ist die Von-Oben-Planung mit einem guten Überblick über die gesamte Struktur sicher das Beste.

Das Interview führten Fritz Münzel und Silvia Stettmayer

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Januar/Februar