Urbane Logistik sorgt für frisches Bier

Beitrag von Dipl.-Ing. Dipl.-Wirtsch.Ing.(FH) Robert Oettl, Geschäftsführer  TÜV SÜD Advimo GmbH und TÜV SÜD ImmoWert GmbH

Handwerk und Produktion waren bereits vor der Industrialisierung integraler Bestandteil der Lebens- und Wohnumgebung. Nach einem Jahrhundert der Trennung von Produktion und Leben werden Städte immer weiter verdichtet, die Produktion kehrt zurück – Produkte werden in immer kleineren Einheiten bestellt und geliefert – Konzepte urbaner Logistik sind unabdingbar und facettenreich. Im nachfolgenden Beitrag wird am Beispiel der Bierproduktion bei Giesinger Bräu gezeigt, wie die Produktion in eine bestehende Wohnbebauung in Mischgebieten integriert werden kann.

Das urbane Gebiet – Leben und Arbeiten rücken zusammen

Seit Jahren sorgt, auch städteplanerisch, die Entwicklung von reinen Wohn-, Gewerbe- und Industriegebieten hin zur gemischten Nutzung für mehr Individualität, nachdem die viel diskutierte Gentrifizierung der Wohngebiete in innerstädtischen Großstadtlagen für eine „Sterilisierung“ der innerstädtischen Kieze gesorgt hat.

Gemischt genutzte Neubau-Quartiere sind, insbesondere in München, nach wie vor Mangelware. Bau- und Emissionsschutzrecht tun ihr Übriges. Eine echte, meist kleinteilige, Mischnutzung ist für die Investoren wirtschaftlich deutlich weniger lukrativ als hochwertiges Wohnen. Im Hamburger Stadtteil St. Pauli entsteht mit dem Paloma-Viertel, das von der Bayerischen Hausbau entwickelt wird, nun eines der ersten „urbanen Gebiete“.

Dieser seit 2017 in die Baunutzungsordnung neu eingeführte Baugebietstyp ermöglicht eine deutlich dichtere Bebauung. Statt der ursprünglich geplanten 2000 qm Gewerbeflächen und 5700 qm Wohnflächen im Mischgebiet entstehen nun 28500 qm Bruttogeschossfläche auf dem 6200 qm großen Grundstück. Die gesamte Entwicklung erfolgte in engster Abstimmung mit den (bisherigen) Bewohnern des Viertels.

Urbane Gebiete fordern urbane Logistik

Gerade durch die extreme Verdichtung und unterschiedlichste Nutzung kommt der Logistik im urbanen Umfeld eine besondere Bedeutung zu. Die zentrale Herausforderung der Logistik im urbanen Raum ist die sichere, sozial- und umweltverträgliche Versorgung der Bevölkerung mit individuellen Gütern und Dienstleistungen. Die urbane Logistik übernimmt wichtige Aufgaben in Ver- und Entsorgung von Haushalten, Handel und Produktionsstandorten in städtischer Umgebung.

Gleichzeitig ist in hochverdichteten Räumen die Nutzung von großen LKW, Transportern oder gar Bahn-Güterverkehr nicht möglich. Oft ist dies auch nicht sinnvoll, da zunehmende und gleichzeitig kleinteiligere Warenmengen zur Zuspitzung der Verkehrssituation und einer Einschränkung der Lebensqualität führen würden.

Mobilitäts-Hubs als Lösung

Abhilfe kann hier nur die Kombination der Verkehrsträger, sowie eine geschickte Planung innerstädtischer „urbaner Gebiete“ und deren Ausstattung mit sogenannten Mobilitäts-Hubs schaffen. Die Mobi-Hubs stellen den Bewohnern und Gewerbetreibenden im Gebiet eine umfassende Palette von Elektrofahrzeugen, vom Segway, über das E-Bike bis zum elektromobilen Oberklassefahrzeug im Rahmen von Sharing-Modellen zur Verfügung, stehen als Post-Paket-Sammel- und Abholstation zur Verfügung und koordinieren Warenlieferungen an die Gewerbetreibenden im Quartier.

Urbane Logistik in gewachsenen Strukturen – die Brauerei im Viertel

Die oben beschriebenen Herausforderungen für Neubaugebiete sind mit dem Willen aller Beteiligter zu lösen. Wie verhält es sich aber, wenn sich die Produktion in die bestehende Wohnbebauung in heutigen Mischgebieten integriert und damit de facto Ver- und Entsorgungslogistik im größeren Umfang erzwingt?

Ein spannendes Beispiel ist die Produktion von Bier. Zum einen gibt es mit dieser Art der Produktion und der zugehörigen Logistik, sowie der Integration bzw. Trennung von der Wohnnutzung bereits Erfahrung über viele Jahrhunderte, zum anderen gibt es mit dem nachfolgend beschriebenen Beispiel des Giesinger Bräu nicht nur Erfahrung mit der Integration, sondern auch mit erfreulich starkem Wachstum in den engen Grenzen der Urbanität.

Urbane Logistik am Beispiel Giesinger Bräu

Herausfordernd ist, wenn sich eine Garagen- oder Hausbrauerei, von denen es innerhalb Münchens ein knappes Dutzend gibt, zu einem echten Produktionsbetrieb entwickelt.

Giesinger Bräu ist 2006 in Untergiesing gestartet. In den Jahren 2013 und 2014 wurde am Giesinger Berg, direkt unterhalb der Heilig-Kreuz-Kirche, eine Brauerei mit Bräustüberl und Verkauf errichtet. Die Produktionsstätte ist mittlerweile auch zu klein, um den Münchner Bierdurst zu löschen. 12.000 Hektoliter verlassen die Brauerei derzeit im Jahr. Das sind immerhin 2,4 Millionen Halbe Bier. Damit ist die Brauerei an der absoluten Kapazitätsgrenze.

Was bedeutet dieses Wachstum nun für die Logistik in der urbanen Umgebung? 

Giesing gehört mit mehr als 7000 Einwohnern pro km2 zu den dichter bevölkerten Stadtteilen in der ohnehin dicht besiedelten Stadt München mit ca. 4800 Einwohnern je km2.

Produktion

Beginnen wir mit der Produktion: Gemäß bayerischem Reinheitsgebot von 1516 enthält Bier lediglich Gerste, Hopfen und Wasser... und natürlich Prozess-Wärme und Hefe, um die Maische in Bier umzuwandeln. Abgesehen davon, dass mittlerweile auch Weizen als Braugetreide zulässig ist, lässt sich damit bereits die notwendige Zuliefer-Logistik für den Produktionsprozess verstehen. Münchner Trinkwasser wird zugeführt, Hopfen ist logistisch wenig problematisch, da er als Pellets in sehr geringem Volumen in den Produktionsprozess eingesteuert wird. Gerste wird von der Mälzerei als Gerstenmalz geliefert.

Hier genügt alle 14 Tage eine LKW-Ladung mit etwa 18 Tonnen Malz, um die beiden 11-Tonnen-Silos wieder voll zu befüllen. Derartige Verkehrsbelastung ist am Giesinger Berg mit einigen 1000 Kfz pro Tag praktisch kaum wahrnehmbar.

Ablieferung und Abfallwirtschaft

Spannender als die Zu-, ist sicherlich die Ablieferung und die Versorgung der Giesinger Einwohner. Einmal pro Woche wird das fertige Produkt mit dem Tankwagen zur Füllerei nach Eitting im Erdinger Moos gefahren. Zu Beginn wurde dies mit Hilfe eigener LKWs und vierfachem Verkehrsaufkommen bewerkstelligt. Ökologisch und ökonomisch wurde mit der Nutzung des Tankwagens mit maximal 240 hl und dem Mehrkammersystem für unterschiedliche Biersorten eine deutlich positive Entwicklung eingeschlagen. Fässer werden direkt vor Ort gefüllt und größtenteils im direkt angrenzenden Bräustüberl verbraucht.

Neben dem fertigen Produkt entsteht Produktionsabfall in Form von Biertreber. Dieser wird aufgrund des hohen Eiweißgehalts häufig an Betriebe der Milchviehwirtschaft verkauft. Der derzeitige Preis liegt eigentlich bei 11 EUR pro Tonne. Um den Logistiker, der zweimal die Woche neun Tonnen Treber abtransportiert, zur Anreise mitten in die Stadt zu bewegen, wird der Treber derzeit noch verschenkt.

Leergutmanagement

In Eitting befindet sich neben der Füllerei auch das Leergutlager der Brauerei. Die wahre logistische Meisterleistung liegt in der Bündelung der Kleinteiligkeit und des Verfügbarmachens von ausreichend Leergut in den Sommermonaten und vor Weihnachten. In Summe werden, neben der Fassware für den Verkauf vom Zapfhahn, mehr als zwei Millionen Flaschen, Halbe und die Giesinger 0,33er, pro Jahr gefüllt und verkauft. Tendenz steigend.

Das Leergut bleibt im Sommer leider häufig ungenutzt in den Kellern der Kunden oder landet jenseits der 60-km-Grenze im Norden der Republik oder gar im Ausland, da Giesinger aufgrund seines Kultstatus´ auch gerne von Biertrinkern jenseits des eigenen Liefergebiets, „exportiert“ wird. Hier ist man auf Leergutsammler angewiesen, über die die Kisten zurückgekauft werden.

Zusätzlich wird laufend Leergut zugekauft, um sowohl Schwund auszugleichen als auch dem Wachstum gerecht zu werden – hierbei verzichtet man auf den Klotzpack, sondern kauft Träger, in denen die Flaschen bereits eingesetzt sind. Mit diesem logistischen Kniff lässt sich der Füllprozess deutlich effizienter gestalten.

Produktion und Konsum am gleichen Ort

Nachdem die etwa 10.000 Hektoliter pro Jahr in Eitting abgefüllt werden, erfolgt die Verteilung mit etwa 80 Sattelzügen pro Jahr, zur Hälfte im Umkreis von 60 km um München. Etwa die Hälfte kommt zurück nach München und ein Teil davon auch wieder nach Giesing. 15 % der gesamten Produktion werden nämlich im Wirtshaus verkauft, 10 % im eigenen Hof und 10 % bei Events auf dem Gelände am Giesinger Berg, in Summe gut 3.500 Hektoliter.

Und damit kommen wir zum interessantesten Kapitel der urbanen Logistik. Per LKW kommt das Vollgut zurück zur Braustätte, wo es im Wirtshaus bzw. beim Hofverkauf an den Endkunden gebracht wird. Direkt vor Ort fließen also etwa 500.000 Halbe Bier durch durstige Kehlen. Wenn jeder drei Halbe trinkt, bedeutet dies, dass jährlich etwa 167.000 Besucher im Rahmen von Events oder als Besucher des Wirtshauses, d.h. pro Woche mehr als 3.000 zum Giesinger fahren müssten, obgleich sie nach drei Halben Bier natürlich nicht mehr Auto fahren dürften.

Lassen wir zusätzlich beim Hofverkauf jeden Besucher zwei Kästen mitnehmen, sind weitere 5.000 Besucher pro Jahr mit einem PKW vor Ort. Sollten die Gäste mit zwei Personen je Fahrzeug anreisen, kreisen also mehr als 1.300 PKW pro Woche um den Giesinger Bräu, was zumindest in ungesteuerten Spitzenzeiten zum Verkehrsinfarkt führen würde.

Geschickte Kombination der Verkehrsmittel

Warum kommt es nicht zum Kollaps? Urbane Logistik funktioniert, wie oben beschrieben, nur durch geschickte Kombination aller Verkehrsträger und dazu gehören auch, aber nicht nur, der Selbst-Fahrer, ÖPNV-Nutzer, Radfahrer und Fußgänger. Von Dienstag bis Samstag verteilen sich die Selbstabholer an der Giesinger Rampe. Die Gasthaus- und Eventbesucher reisen zu einem großen Teil mit dem öffentlichen Nahverkehr an.

Die Bindung der Giesinger an Ihren Giesinger-Bräu sorgt dafür, dass ein Großteil des Ausschanks im Bräustüberl und bei Events von Verbrauchern aus der Nachbarschaft konsumiert wird. Die Nähe zum Grünwalder Stadion, in dem Münchens Traditionsverein, der TSV 1860, immer noch seine Fußballspiele, derzeit im Mittelfeld der dritten Liga, bestreitet, erfordert 14-tägig erneut eine ausgeklügelte Logistik. Vor und nach dem Spiel darf das Bier keinesfalls ausgehen. Damit übernimmt der Giesinger Bräu mit Produkt und Logistik eine deeskalierende Aufgabe bei der Fan-Betreuung.

Auch in Zukunft in urbaner Umgebung

Da das Wachstum in Giesing begrenzt bleibt, wird die Brauerei eine zweite Braustätte – ebenfalls innerhalb der Stadtgrenzen – eröffnen. Dort wird zur Reduzierung des logistischen Aufwands eine eigene Füllerei integriert.

Fertig soll das neue Sudhaus Anfang 2020 sein. Giesinger Bräu wird dort vor allem sein Helles herstellen. Die Brauerei und die Gaststätte am Giesinger Berg sollen künftig vornehmlich als Testlabor für neue Biersorten und als Braustätte für die Gypsy Brauer Szene dienen.

Mit dem zweiten Standort wird Giesinger Bräu künftig 30.000 Hektoliter Bier im Jahr brauen – also beinahe dreimal so viel wie heute. Die Anlagen sind für 40.000 Hektoliter ausgelegt, die Planungs-Reserve ermöglicht eine Spiegelung der Produktion, d. h. langfristig auch einen Ausstoß von 80.000 Hektolitern.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Januar/Februar