Die Kunst der passenden Fragestellung

Die Macht von Produkt-Archetypen bei der Produktentwicklung

Beitrag von Dipl.-Ing.-Designer, Dipl.-Ing. (FH) Johannes Hoyer TZM smart & green – TechnologieTransferzentrum für den Mittelstand, Hochschule Ansbach

In dem Augenblick, wo wir Trends folgen, laufen wir ihnen bereits hinterher. Wie Sie dies vermeiden können, erfahren Sie in diesem Artikel.

Haben Sie sich in letzter Zeit einmal nach einem neuen Smartphone umgesehen? Und dabei womöglich festgestellt, dass diese immer ähnlicher werden und zum Teil kaum mehr voneinander zu unterscheiden sind. Eine Produktwelt, die immer gleicher und zugleich unüberschaubarer wird. Ähnlich verhält es sich beim Auto. Oder bei einfachen Produkten, wie Haartrockner, die umgangssprachlich gerne mit dem ursprünglichen Markennamen der Firma Sanitas – heute Electrolux – als „Fön“ bezeichnet werden. Wissen Sie auf Anhieb, welcher der vielen Haartrockner der richtige für Sie ist, wenn Sie vor dem Regal in einem der großen Elektromärkte stehen? Vermutlich eher nicht und die Wahl fällt schwer, denn sie funktionieren alle sehr ähnlich und stoßen in erster Linie heiße Luft aus. Diese zunehmende Produktmonotonie ist ein typisches Phänomen unserer heutigen Zeit des Massenkonsums.

All diese Produkte basieren auf einem bestimmten Produkt-Archetyp. Der Begriff „Archetyp“ steht dabei für die Urform, das Urbild eines Produktes oder Gegenstandes. Es stellt die erste Gattung seiner Art dar. Und somit steht es auch für eine bestimmte Lösung, einen bestimmten Lösungstyp, die dann die jeweilige technische Entwicklung in Form eines Produktes verkörpert. Basierend auf dem Archetyp bilden sich mit der Zeit einzelne Produktkategorien heraus, die oft über Jahre oder Jahrzehnte erhalten und unverändert bleiben.

 

Doch woher kommt diese starke Anhaftung zu einem bestimmten Produkttyp? Die Orientierung an vorhandene ProduktArchetypen hat den großen Vorteil, dass ein hoher Wiedererkennungswert gegeben ist. Der Nutzer oder potenzielle Käufer, der ein Produkt von der Gattung her wiedererkennt, weiß damit automatisch, wie dies in der Regel zu bedienen ist. Die Wiedererkennung nimmt Angst vor dem Unbekannten und gibt Sicherheit in Bezug auf dessen Handhabung. Und, mindestens genauso wichtig jedoch nicht so offensichtlich, der Anwender weiß aufgrund seiner Erfahrung mit einem ähnlichen Produkt, wie sorgfältig oder vorsichtig er das Produkt behandeln muss. Beispielhaft sei die „gute alte Zeit“ erwähnt, in der wir noch unsere Urlaube mit „richtigen“ Kameras statt dem Smartphone festgehalten haben. Dabei kam es vor Sehenswürdigkeiten oft vor, einen anderen Touristen um ein Foto von sich zu bitten; und man gab ihm dazu die eigene Kamera in die Hand. Dieser wusste meist ohne langwierige Einweisung, wie die Kamera zu halten und auszulösen ist. Und er wusste auch, dass es gut ist, die Kamera vorsichtig und sorgsam zu behandeln, weil sie einen Sturz auf den Boden kaum überlebt. Dies führt jedoch dazu, dass im Produktmanagement und in Entwicklungsabteilungen oft nur in genau diesen Produktkategorien und Archetypen gedacht wird. Und in diesem Augenblick verliert die Ingenieurskunst ein großes Potenzial an Innovationsfähigkeit. Auf diese Weise bleiben wir an Altem haften und nehmen einen sehr eingeschränkten Blick auf die Dinge ein.

Hinzu kommt der stete Drang in Unternehmen, spätestens für die nächste Messe, wieder etwas Neues präsentieren zu müssen. In der Regel wird dann z. B. im Bereich von Haushaltsgeräten vom Produktmanagement die Aufforderung an die Entwicklungsabteilung gegeben: Wir brauchen einen neuen „Fön“!

Doch was wird bei dieser Art an Aufgabenstellung bzw. Frage am Ende dabei herauskommen? Es wird i.d.R. wieder ein Haartrockner sein. Vielleicht mit einer anderen Farbe, Form, einer Hitzestufe mehr oder einer Ionisationsstufe. Aber letztendlich darf er sich unter den unzähligen anderen Fönen einreihen und verschwindet bald darauf in der breiten Masse ähnlicher Produkte.

Kann diese Art des Fortschritts noch als wirkliche Innovation bezeichnet werden? Wohl eher nicht. Doch was ist die Lösung und Alternative? Die Lösung liegt in einem Umdenken und einer anderen Fragestellung zu Beginn einer Entwicklung. Das Denken in vielen Unternehmen ist geprägt von der zuvor beschriebenen, produktorientierten Sichtweise. Ein einfaches Umformulieren der Ausgangsfrage vor einer Entwicklung kann bereits völlig neue Horizonte eröffnen. Statt nach einem neuen, aber gleichen Produkt zu fragen, lässt sich gedanklich viel früher ansetzen; mit der Frage: Was ist das eigentliche Problem? Was ist die Ursache, die wir beseitigen wollen?

Bei Haaren wäre naheliegend zu antworten: Das Problem sind nasse Haare. Bei genauerer und tiefer gehender Betrachtung lassen sich jedoch H2 O-Moleküle ausmachen, die an Haarschuppen kleben und die es zu entfernen gibt. Durch diese Extraktion des ursprünglichen Themas kann sich der innere Blick und kreative Horizont weiten und für neue und u.U. ganz andere Wege öffnen. Um sich anschließend z. B. Fragen zu stellen wie: Welche verschiedenen Wege gibt es, um Dinge oder Moleküle zu entfernen? Wie werden in anderen Bereichen kleinste Elemente entfernt? Auf welche Arten lässt sich Wasser binden oder einfangen?

Eine erste daraus abgeleitete kreative Ideensammlung könnte beispielhaft folgende Lösungsansätze zutage bringen: ein einfaches Handtuch, eine mit feuchtigkeitsabsorbierendem Material (z.B. Silica-Gel) befüllte Kopfbedeckung oder einen Haar-Trockensauger. Dieser HaarTrockensauger hätte zudem den großen Vorteil, es gäbe keine schädliche Hitzeeinwirkung auf das Haar und er könnte sehr gut für das Hairstyling verwendet werden.

Nur durch diesen einfachen, aber anderen Ansatz und Fragestellung ergeben sich plötzlich ganz neue Sichtweisen und Lösungsansätze. Die neuen, daraus resultierenden Produkte könnten zu einer deutlich größeren Produkt- und Lösungsvielfalt führen. Negative Aspekte der bisherigen Produkte ausgleichen. Und es würde dem ein oder anderen Unternehmen die Marketingsituation ersparen, dass sein Produkt letzten Endes nur eines von vielen ähnlichen Produkten auf dem Markt und im Regal der Händler ist.

Die Ausgangsfrage bei der Aufgabenstellung entscheidet somit maßgeblich über das Endergebnis. Will ich nur ein weiteres, ähnliches Produkt? Oder will ich eine ganz neue Lösung, die u.U. nur noch wenig mit dem Bestehenden zu tun hat? Somit ist die Kunst der passenden Fragestellung für jedes Projekt, für jede Lösungssuche oder Entwicklungsaufgabe von entscheidender Bedeutung; und verlangt ein besonderes Augenmerk und Feingefühl.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2022 Januar/Februar