Nur gemeinsam können wir etwas Gutes schaffen

Interview mit Prof. Marion Kießling, Fakultät Design für Produktgestaltung, Hochschule München

Gestaltung ist ein wesentlicher Punkt in der Produktentwicklung. Dazu sprachen wir mit Prof. Marion Kießling, Fakultät Design für Produktgestaltung, Hochschule München.

TiB: Wie würden Sie Ingenieurskunst definieren?

Marion Kießling: Das Wort Ingenieurskunst beschreibt Entwicklungsergebnisse, die eine besondere ästhetische Qualität besitzen. Designer verstehen sich nicht als Künstler, arbeiten jedoch häufig mit Ingenieuren zusammen – oft mit Ergebnissen, die als Kunstwerke gesehen werden. Das ist unser Hintergrund, denn nur gemeinsam können wir etwas Gutes schaffen. Wir suchen Anwendungen für Technologien, die Ingenieure entwickelt haben. Auf der anderen Seite brauchen wir für unsere Entwürfe technische Unterstützung von Ingenieuren. Design funktioniert nicht nach dem Prinzip "Einer macht alles". Kaum ein Produkt ist so niederkomplex, dass es nicht von mehreren Kompetenzen profitieren könnte.

TiB: Diese Entwicklung ist ein Prozess. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Kießling: Meistens haben wir Vorgaben, ein durch betriebliche oder unternehmerische Bedürfnisse markiertes Ziel, was entwickelt werden soll. Auf der anderen Seite steht der Kunde beziehungsweise der Nutzer mit bestimmten Wünschen, Bedürfnissen und Fähigkeiten. Dann kommt der Designer, der die Gestaltungsmöglichkeiten auslotet und der Ingenieur, der die Randbedingungen aufzeigt und sagt was für ihn noch funktioniert und was nicht.

TiB: Also hier wird das Geplante, Rechenbare, Nüchterne und Sachliche kombiniert mit dem Künstlerischen, Pfiffigen?

Kießling: Ja richtig. Allerdings ist es wirklich schwierig, eine gute Idee zu haben. Das ist der eigentliche Gestaltungsprozess. Es müssen immer mehrere Ideen ausgebrütet werden, denn die erste Idee passt meistens nicht. Das muss man aushalten.

TiB: Wie kann man Erkennungsmerkmale weiterentwickeln ohne dass der Charakter verloren geht?

Kießling: Man muss lernen, abstrakt zu denken, semantische Eigenschaften zu erkennen und kulturelle Themen zu verstehen. So kann ja z.B. die Form alleine schon Emotionen ausdrücken – wobei immer alle sinnlichen Eindrücke wirken, nicht nur die visuellen Eindrücke.

TiB: Sie versuchen dann Eigenschaften und Charakteristika in Worte zu fassen?

Kießling: Ja, denn manche Zusammenhänge von Erlebtem und Interpretiertem sind angeboren, viele jedoch kulturell bedingt zugeschrieben. Nehmen Sie die Farbe Rot. Sie steht bei uns zuerst einmal für Gefährliches, ist ein Hinweis auf Blut und Krieg. In China ist es die Lebensfreude schlechthin. Von wenigen Konnotationen wissen wir, dass sie wirklich genetisch verknüpft sind, z.B. ist es bedrohlich, wenn etwas von oben herunterkommt oder zeitlich sehr abrupt und plötzlich passiert. Diese „lauten" Effekte sind noch einfacher zu beschreiben, aber wie drücke ich „süß" durch eine Farbe aus? Ein positiver Begriff, vielleicht rosa, vielleicht weiß? Ich meine das aber auf keinen Fall esoterisch, sondern es geht wirklich darum, wie ich das, was ich empfinde, auch ausdrücken kann.

TiB: Gibt es hier eine Art Katalog?

Kießling: (lacht) Nein, zwischen dem formalen Ausdruck eines Produktes und dem Eindruck, des Produktes auf den Nutzer besteht keine fixe 1:1-Beziehung. Beides, Ausdruck wie Eindruck ist dafür zu individuell, zu vielfältig und zu dynamisch. Und es ist wunderbar, dass man durch die Form alleine eine Emotion oder eine Eigenschaft wie z.B. „gefährlich“, „sanft“, „zurückhaltend“ ausdrücken kann. Und dann kommt die Silhouette dazu und die Oberfläche, die visuell und haptisch wirkt und sich auf eine bestimmte Art und Weise anfühlt. Wie bewegt es sich, wie hört es sich an – all diese sinnlichen Eindrücke.

TiB: Welche Merkmale und Eigenschaften können ein Produkt unverwechselbar machen?

Kießling: Unverwechselbarkeit hat mit Wahrnehmung zu tun. Ich muss es zunächst erkennen. So ist es einerseits gut, wenn es aus der Masse hervortritt, aber es birgt auch eine Gefahr: Wer will schon ein Produkt haben, das seltsam anmutet und das man nicht zuordnen kann? Man möchte herausstechen, aber kein Sonderling sein. Es bleibt ein Balanceakt zwischen Distinktion und Inklusion, bei dem auch wichtig ist, für wen ich gestalte. Denken Sie an Handys: Wollen Sie ein in allen Einzelteilen reparierfähiges, „ökologisches" Gerät oder ein Gerät für einen technikaffinen Nutzer? Wer wir sind, spiegelt sich auch in unseren Konsumgütern wider.

TiB: Gibt es eine Strategie um dieses Ziel zu erreichen?

Kießling: Wir beobachten gesellschaftliche und technologische Veränderungen und übersetzen die Erkenntnisse in neue Formen. Wir haben unser Ziel erreicht, wenn der Kunde das Produkt wirklich haben will, wenn es sein Bedürfnis erfüllt, was immer das ist.

TiB: Wie lange dauert eine Ideensuche?

Kießling: Entscheidend ist hier das Zeitbudget, von dem ich herunterrechne: Grob Nur gemeinsam können wir etwas Gutes schaffen 8 Technik in Bayern 01/2022 SCHWERPUNKT würde ich 25 – 30 % des Zeitbudgets vom Auftrag und einer guten Beschreibung bis zur Entwicklung der Idee veranschlagen. Wir folgen einem iterativen Prozess und einem Ziel, das unterschiedliche Facetten hat. Das gestalterische Lastenheft z.B. besteht aus Keywords, die die Anmutung des Produktes beschreiben. Daran können wir, wie in jedem Entwicklungsprozess, auch am Schluss prüfen, ob das Ziel erreicht wurde.

TiB: Wer entscheidet letztlich über den Designentwurf?

Kießling: Ich beurteile als Dozent den Lernerfolg und die gestalterische Leistung. Der Kooperationspartner darf entscheiden, was für ihn und zu ihm passt.

TiB: Schaffen neue Technologien auch neue Erkennungsmerkmale?

Kießling: Natürlich. Wenn Sie beispielsweise an das Auto denken, da hat man zuerst das Pferd weggelassen, und dann sah es aus wie eine Kutsche. Dann wollte man es schneller machen und folgte den neuen Erkenntnissen aus der Aerodynamik. Ebenso spielte das Sicherheitsbedürfnis in die Gestaltung der Fahrzeuge. Sie sehen, wie einflussreich hier der Austausch mit Ingenieuren ist. Das ist wirklich das A und O, dass man die Technologie inkludiert und diese Entwicklung gemeinsam macht.

TiB: Können Sie uns ein Beispiel für weiterentwickelte Erkennungsmerkmale nennen?

Kießling: Nehmen Sie ein Beispiel wie den Sekretär. Goethe hatte einen Tisch und einen menschlichen Sekretär. Beides war sehr persönlich, der Mensch war Geheimnisträger, der Sekretär als Möbel hatte meist ein Geheimfach. Heute hat man oft nicht mal mehr seinen eigenen Schreibtisch, aber der PC bzw. das Smartphone ist der diskrete Sekretär, persönlich und passwortgeschützt.

TiB: Aber wieso ist dann bei dem Sprung vom Verbrenner zum Elektroauto, was das Design angeht, fast nichts passiert?

Kießling: Ja, noch sind wir in der Übergangsphase, der Einfluss ist noch wenig sichtbar. Zunächst werden bestehende Lösungen mit der technologischen Neuerung versehen, um die Kunden nicht zu erschrecken und auch um die bewährten Strukturen nicht leichtfertig aufzugeben.

TiB: Welche Inhalte vermitteln Sie an Ihrem Lehrstuhl?

Kießling: Wir sind eine Fakultät für Design an einer Hochschule und wir erwarten von unseren Studierenden auch sehr viel Herzblut und Schweiß, vielleicht auch Tränen und Unannehmlichkeiten. Wir vermitteln technisches Wissen und gestalterische Grundlagen, wie Zeichnen, das Bedienen von Werkzeugen in unserer Werkstatt und Verwendung von Software. Der ganzheitliche Blick auf den Nutzer ist wichtig. In der Ergonomie werden die physischen und psychischen Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen thematisiert. So muss ich mir als Gestalter die Frage stellen, wo der Nutzer überfordert wird, wo ich Redundanzen einbauen muss. Und wann muss ich verschiedene Level einbauen, weil die Zielgruppe zu divers ist. Darüber hinaus ist wichtig, wie die soziale Akzeptanz des Produktes ist. Hier müssen Technologie, Gestaltung und die gesellschaftlichen Belange in Einklang gebracht werden. Erinnern Sie sich an das Reitrad (Cavallo) von Herkules? Ein ganz neuer Antrieb, aber man sah auf dem Rad einfach blöd aus. Es wurde ein Flop. Ähnliches geschieht mit großkarierten Jacketts: Nur Wenige möchten sich durch solch ein Kleidungsstück so sehr distinguieren. Und nicht zuletzt wird auch auf gesellschaftliche Strömungen, wie Nachhaltigkeit und Fair Products, eingegangen. Das ist auch ein Bedürfnis der Studierenden.

TiB: Wie ist der Stand der Entwurfstechnik, um Formen zu finden?

Kießling: Es gibt nicht den einen Weg. Es kann in jeder Arbeitsgruppe und da auch jeder individuell seinen eigenen Weg gehen – und das passiert auch. Vom Skizzenblock bis zu Software, die biomorphe Strukturen darstellt, ist alles dabei. Wir fangen immer mit Skizzen an, dann kommen einfache 3D-Skizzen. Wir haben z.B. einen noch nicht dagewesenen Fahrzeugtypen entwickelt, ein vierrädriges, schmalspuriges Motorrad – das muss man sich erst einmal vorstellen, sich hineinphantasieren! Die extrem unterschiedlichen Ansätze entsprachen dann auch den verschiedenen Erfahrungen der Designer. Man hat nur gute Ideen, wenn man einen großen Erfahrungsschatz hat und diese Erfahrungen neu verknüpfen und darstellen kann.

TiB: Und wie wird jetzt aus einer Idee eine Ikone?

Kießling: Eigentlich gar nicht, denn Ikonen machen die anderen daraus, sie entstehen im Nachhinein durch die Akzeptanz der Gesellschaft und oft auch durch wirtschaftlichen Erfolg. Denn zum Leitbild werden Produkte, wenn sie sozusagen die Reinform einer Produktgattung darstellen. Der Begriff Ikone ist auch etwas sehr Persönliches, darauf kann man sich nicht einigen.

 

Zur Person

Prof. M.A. Dipl.-Ing. Marion Kießling studierte Maschinenbau an der Technischen Universität München und Industrial Design und Human Factors an der Ohio State University. Sie arbeitete als angestellte und freie Designerin und hatte u. a. von 1998 bis 2000 eine Professur für Industrial Design (Schwerpunkt Automotive Design) an der Tongji Universität Shanghai, VR China und von 2006 bis 2007 eine Professur für Produktgestaltung und Ergonomie an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd. 2007 wurde sie an die Hochschule München, Fakultät Design für Produktgestaltung und Ergonomie, berufen.

 

Das Interview führten Rupert Zunhammer, Fritz Münzel und Silvia Stettmayer

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2022 Januar/Februar