Lange Wellen des Kapitalismus

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Beitrag von Sebastian Kasper, Frank Dittmann

Vor 100 Jahren fand der sowjetische Ökonom Nikolai D. Kondratieff (auch: Kondratjew) systemimmanente Gesetzmäßigkeiten wirtschaftlicher Auf- und Abschwünge in der modernen Gesellschaft. Anhand von Wirtschaftsstatistiken konnte er zeigen, dass es im Kapitalismus Konjunkturzyklen von circa 50 bis 60 Jahren Länge gibt, die nicht durch äußere Einflüsse wie Umweltkatastrophen, Kriege o. ä. verursacht wurden, sondern ihre Wurzeln in der wirtschaftlichen Dynamik selbst haben. Diese Theorie der langen Wellen wurde später von Joseph Schumpeter aufgegriffen und als Kondratieff-Zyklus in die Wirtschaftswissenschaft eingeführt, wo sie bis heute kontrovers diskutiert wird.

Ein Leben in Dissidenz

Als Kondratieff 1892 in Zentralrussland als Sohn einfacher Bauern geboren wurde, war ihm keine akademische Karriere in die Wiege gelegt. Hinzu kam, dass er sich früh politisch engagierte und deshalb mehrfach verhaftet wurde. Dennoch schaffte er es nach intensiven Selbststudien, sich an der Universität in St. Petersburg einzuschreiben und nach dem Studium eine leitende Stellung in der Verwaltung einzunehmen. 1917 beteiligte er sich an der Februarrevolution und übernahm wichtige Positionen in der neuen Regierung. Nach der Oktoberrevolution wurde er erneut verhaftet, diesmal von den Bolschewiki. Bald wieder freigelassen, gründete er 1920 in Moskau ein wirtschaftswissenschaftliches Forschungsinstitut und beteiligte sich an der Ausarbeitung des Fünfjahresplans für die Landwirtschaft. Dabei setzte er sich für eine wirtschaftliche Planung anhand von Markt- und Preisentwicklungen ein und befürwortete Lenins Konzept der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP). Unter Stalin fiel er erneut in Ungnade und wurde 1930 verhaftet. Nach acht Jahren Haft in Sibirien wurde er 1938 in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und erschossen [1]. Händeler bezeichnet ihn deshalb als heroischsten und tragischsten aller Ökonomen [3, S. 29].

Die Entdeckung langer Konjunkturzyklen

Im Aufsatz „Die langen Wellen der Konjunktur“ von 1926 untersuchte Kondratieff verschiedene Wirtschaftsdaten, etwa die langfristige Entwicklung der Warenpreise in England, Frankreich und den USA. Dabei kam er zu dem Schluss, dass es „seit dem Ende der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts drei große Zyklen gibt, von denen der letzte erst halb erfüllt ist. Die Wellen sind nicht von genau der gleichen Länge; ihre Dauer schwankt vielmehr zwischen 47 und 60 Jahren“ [2, S. 580]. Entscheidend sei dabei, dass diese Konjunkturschwankungen nicht nur die Wirtschaft betreffen, sondern alle Bereiche der Gesellschaft. Unter anderem nannte er technische Entwicklungen, die Wissenschaft, aber auch Ereignisse wie Kriege und Revolutionen, die sich nicht „als die Kräfte, von denen diese Bewegungen ausgehen, sondern als eine ihrer Erscheinungsformen“ erweisen würden [2, S. 594]. Auf die Ursachen dieser Konjunkturzyklen ging er nicht ein, sie würden aber „im Wesen der kapitalistischen Wirtschaft liegen“ [2, S. 599].

Von Basisinnovationen und anderen Interpretationen

Joseph Schumpeter erweiterte in den 1930er-Jahren die Theorie der langen Wellen um die Idee von Basisinnovationen. Diese grundlegenden technischen Neuerungen, wie z. B. Dampfkraft, Eisenbahn oder Elektrotechnik, seien die Ursache für die von Kondratieff beobachteten Zyklen. Anhänger dieser These versuchen bis heute die großen Konjunkturzyklen und die dazugehörigen Basisinnovationen zu analysieren und in die Zukunft zu projizieren. Besonders in Zeiten wirtschaftlicher Krisen oder sozialer Umbrüche greift man gern auf Kondratieff zurück. So gesehen, scheint auch dessen Wirken den langen Wellen zu folgen.

Literatur

[1] Zur Biografie: Wächter, Lars: Ökonomen auf einen Blick. 2. Auflage. Wiesbaden 2020, S. 443-450.

[2] N. D. Kondratieff: Die langen Wellen der Konjunktur. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 56 (1926), S. 573-609.

[3] Faksimile-Nachdruck in: Erik Händeler (Hrsg.): Die langen Wellen der Konjunktur. Nikolai Kondratieffs Aufsätze von 1926 und 1928. Moers 2013.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 03/2023 MAI/JUN