Sicherheitskonzepte lebensnah

Besucherverhalten simulieren für den Ernstfall

Beitrag von Christiane Taddigs-Hirsch, Hochschule München

Love-Parade, Oktoberfest und Bundesligaspiel. Längst zählt vor allem die Sicherheit – für Besucher wie Veranstalter. Eine Simulationssoftware erlaubt es jetzt, vorab Verhalten von Event-Besuchern durchzuspielen. Das macht den Praxistext von Sicherheitskonzepten lebensnah und kann im Ernstfall Leben retten. Wie die Situationsanalyse des Besucherverhaltens durch Simulation funktioniert und welche Modelle dabei zum Einsatz kommen.

Fundierte Sicherheitskonzepte durch Simulation

Verbundprojekt MultikOSi

Das Bierzelt ist voll und alle wollen raus. Am linken Ausgang wird es eng. Vor einem nichts als Schultern und Köpfe und jetzt ist gar kein Vorankommen mehr. Das alles lässt sich mit der Datenbrille in der Simulation von Prof. Dr. Gerta Köster, Professorin für Informatik und Mathematik an der Hochschule München, hautnah und in 3D erleben. Wie sich die realen Bewegungen der Besucher mathematisch formulieren und simulieren lassen, daran arbeiteten sie und ihr Team im Verbundprojekt „MultikOSi – Multikriterielle Vernetzung für Offenheit und Sicherheit“.

Mehr als zehn Partner aus Forschung an Hochschulen und Universitäten sowie der Wirtschaft integrieren hier ihre Daten, Modelle und Algorithmen in einen Gesamtsimulator. Veranstaltern von Großevents und Planern von Gebäuden soll die Software zukünftig helfen, ihre Entscheidungen in Sachen Sicherheitskonzepte wissenschaftlich fundiert zu treffen. Sofort sehen sie, wie sich die Breite einer Türe oder Länge einer Treppe auf die Räumung ihrer Veranstaltung auswirkt. Die Bundesregierung förderte das Projekt, das zunächst im Bereich der „Fußgängerforschung“ aufsetzte, dann aber Mathematiker, Informatiker und Sozialpsychologen an einen Tisch brachte.

Virtuelle Besucher als entscheidungsfähige und soziale Wesen

Vom Thema her „Fußgängerforschung“, basiert die Software von „MultikOSi“ gerade nicht auf deren bisher gängigem Vorgehen: Analogien aus der Physik der Teilchen liefern Vermutungen, wie sich Menschen etwa bei unterschiedlicher Dichte in einem Personenstrom verhalten könnten. Der Haken dabei: Der Besucher ist in dieser Art von Modell ein uniformes, passives und beziehungsloses Teilchen.

Eine Sicht, die Köster für ihr Teilprojekt, das sich mit der kognitiven Ebene und mit Menschen in Bewegung beschäftigte, ändern wollte. „Denn auch bei vermeintlich einfachem Verhalten wie Gehen oder Anstehen treffen Menschen aktiv Entscheidungen und sie verhalten sich sozial“, sagt Köster zu ihrem Forschungsansatz. Soziologische und psychologische Forschungen wurden deshalb zum A und O. „Beobachtung ist notwendig als Input für mathematische Modellentwicklung und realistische Simulation. Davon gingen wir in MultikOSi aus“, sagt die Projektleiterin. Konkret hieß das: Die Menschen beobachten, wo sie gehen, stehen und verweilen, um aus diesen Situationen im „Gutfall“ dann auch Erkenntnisse für ihr Verhalten im Notfall abzuleiten.

Zurück in die Wirklichkeit: Situationsanalysen von Besucherverhalten

Vor Ort beobachteten Projektmitarbeiter der Hochschule München mit Partnern der Universität Koblenz Landau zum Beispiel wie schnell etwa Fans bei einem Fußballbundesligaspiel in Kaiserslautern in Shuttle-Busse steigen. Mit dem Partner TU München untersuchten sie, wie sich Besucher des Back-to-the-Woods-Festivals in Garching im Eingangsbereich anstellten. Und sie filmten Testpersonen an der Hochschule München in Laborexperimenten beim Gehen, Ausweichen oder Abstandhalten bei Hindernissen.

Dr. Isabella von Sivers kam bei Evakuierungssimulationen mit Verletzten zu dem Ergebnis: „Das soziale Verhalten, die Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander, verändern den Ablauf fundamental. Das darf man nicht vernachlässigen.“ Dr. Michael Seitz fand heraus, wie psychosoziale Faktoren die Entscheidungen von Menschen in Gruppen unterschiedlicher Dichte beeinflussen.

Ist nur eine ganz geringe oder aber eine sehr große Zahl von Menschen unterwegs, fällt die Entscheidung, wohin man laufen soll, leicht. Schwieriger ist es bei einer mittelgroßen Menschengruppe. „Situationen, in denen viel ausgewichen werden muss, können die größte kognitive Herausforderung darstellen“, sagt Seitz. Sivers und Seitz arbeiteten interdisziplinär, unter anderem mit dem „Crowd-Psychologen“ Dr. John Drury der University of Sussex, daran, Modelle aus der Sozialpsychologie in die Personenstromsimulation zu integrieren.

Weniger Daten durch Reduzierung der Komplexität

In den Simulationen von „MultikOSi“ sollte der virtuelle Besucher nun als entscheidungsfähiges und soziales Wesen modelliert werden. „Doch Agentenmodelle mit Entscheidungsprozessen und vergleichende Simulationen für Sensitivitätsstudien benötigen sehr lange Rechenzeiten und große Rechnerleistungen, die online zurzeit nicht geleistet werden können“, sagt Köster zum Problem der Umsetzung der Beobachtungsdaten.

Eine Möglichkeit Datenmengen zu reduzieren war, Wege zu finden, wie sich mathematische Modelle selbst einfacher gestalten lassen. Seitz arbeitete mit dem mathematischen Biologen Dr. Nikolai Bode an einer solchen Vereinfachung der Abbildung von Gehbewegungen: Sie trafen nicht nur die Annahme, dass Besucher für jeden einzelnen Schritt ganz einfache Regeln befolgen – so genannte „kognitive Heuristiken“ –, sondern, dass sich diese einfachen Regeln auch zur algorithmischen Formulierung eines tragfähigen Modells eignen – mit Erfolg.

Mit Ersatzmodellen zu anwendungsfähigen Simulationen

Eine weitere mögliche Lösung für das Berechnungsproblem sind Ersatzmodelle. Das Ersatzmodell soll dabei die Dimension und Dynamik des ursprünglichen Modells abbilden, zugleich aber dessen Komplexität radikal reduzieren. Bei Ersatzmodellen sind nur die wichtigsten Beobachtungsgrößen auf einen Anfangszustand aufgesetzt, der ebenfalls durch ganz wenige Parameter beschrieben wird. Trotzdem sollen sie ebenso aussagekräftige und realistische Ergebnisse erzielen wie die Originalmodelle.

Zwar begrenzt in ihren Anwendungsfällen, ermöglichen sie überhaupt erst die Berechnung und Simulation und damit die praxisorientierte Anwendung für die Nutzer. Forscher in „MultikOSi“ entwickelten eine Reihe solcher Ersatzmodelle. Dr. Felix Dietrich konstruierte mit aktuellen mathematischen Methoden nicht nur ein Ersatzmodell für einige Szenarien. Er legte auch die Basis für einen Konstruktionsalgorithmus solcher Modelle.

Simulationsplattform VADERE

Die Modelle und Algorithmen des Teilprojekts der Hochschule München gingen in einen Gesamtsimulator auf der Simulationsplattform VADERE ein.
 

Unter www.vadere.org sind sie für die Forschungs-Community frei zugänglich. Den Realitätstest haben sie bereits bestanden. Das Exist-Start-Up accu:rate von Dr. Angelika Kneidl bietet in enger Zusammenarbeit mit „MultikOSi“ Entfluchtungsanalysen an. „Auch in der Forschung werden sich unsere Ergebnisse bald als Stand der Technik durchsetzen“, ist sich Köster sicher, „aber fünf bis zehn Jahre kann das schon noch dauern.“

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2017 September/Oktober