Neue Wege in der Neurorehabilitation

Methoden aus den Bewegungswissenschaften bei neurologischen Erkrankungen

Beitrag von Philipp Gulde M.Sc., Prof. Dr. Alan Armstrong und Prof. Dr. Joachim Hermsdörfer, LS für Bewegungswissenschaften, TUM

Neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall und Demenz mit ihren verschiedenen Ausprägungsformen, beispielsweise die Alzheimer Demenz, können zu schweren Einschränkungen im alltäglichen Leben führen. Hilfe wird durch Angehörige und durch professionelle Pflegeeinrichtungen geboten. Mit Augmented Reality kommt nun eine neue und vorteilhafte Herangehensweise in der Neurorehabilitation zum Einsatz. Mehr dazu.

Neurologische Erkrankungen: Risiko und Kosten

In Deutschland erleiden jährlich ca. 270.000 Bundesbürger einen Schlaganfall. Ca. 50 % der Überlebenden leiden selbst nach einem halben Jahr noch an halbseitigen Lähmungen und kognitiven Defiziten. Ca. 25 % haben ihre Fähigkeit zu unabhängigem Leben dauerhaft verloren.

Demenzen treten im Allgemeinen bei höherem Alter auf, wobei die Häufigkeit mit 21.000 bei den 65-69-Jährigen hin zu 50.000 bei den über 90-jährigen rapide ansteigt. In der deutschen Bevölkerung beobachtet man jährlich ca. 300.000 Neuerkrankungen. Das Risiko funktionale Einschränkungen, welche vor allem das Alltagsleben betreffen, zu erfahren, ist bei Demenzerkrankten 14-mal so hoch wie bei gleichaltrigen, gesunden Menschen.

Zwar haben Demenzkranke nicht mit Lähmungen zu kämpfen, wie dies beispielsweise bei Schlaganfallpatienten der Fall ist, aber auch der Verlust von Gedächtnis, Orientierung und kognitiver Leistungsfähigkeit führt zu Abhängigkeiten. Die Pflegekosten für Patienten mit neurologischen Erkrankungen können, natürlich abhängig von der Schwere der Erkrankung, ohne weiteres über 40.000 € pro Jahr betragen.

Apraxie und Aktions-Desorganisations-Syndrom

Ein Sonderfall von funktioneller Einschränkung ist ein sogenanntes Apraxie und Aktions-Desorganisations-Syndrom (AADS). Dabei verlieren Menschen die Fähigkeit, alltägliche Objekte sinnführend zu verwenden – beispielsweise einen Hammer oder einen Löffel. Auch kann die Fähigkeit verloren werden, Aufgaben, welche mehrere Arbeitsschritte erfordern, in einer zielführenden Anordnung dieser Aktionen auszuführen. Betroffene können beispielsweise keinen Tee mehr kochen oder Essen zubereiten, weil die Reihenfolge der einzelnen Aktionen für sie nicht herleitbar ist. Bei Schlaganfällen wird bei linksseitigem Hirnschaden von bis zu 51 % Betroffenen berichtet, bei der Alzheimer Demenz, je nach Schwere, von 35 bis 98 %.

Diagnostik von Alltagshandlungen

Im klinischen Setting wird versucht, mit möglichst wenig Aufwand motorische und kognitive Funktionen zu erfassen. Solche Tests können auf einer Beobachtung durch geschultes Klinikpersonal oder dem Ausfüllen eines Fragebogens beruhen. Gängige Testbatterien sind die „CERAD“-Testbatterie oder auch das „BCoS“. Derartige Testbatterien beinhalten Gedächtnis-, Zeichen oder auch Alltagsaufgaben und sollen helfen, den mentalen Status eines Patienten einzuschätzen.

Sehr viel genauere Aussagen können allerdings unter Zuhilfenahme von technischem Gerät getroffen werden. In der klinischen Forschung wird dabei auf Eye-Tracking zur Erfassung von Blickverhalten, Motion-Tracking zur kinematischen Quantifizierung von Verhalten und funktionelle Magnetresonanztomographie zur Erforschung von Gehirnstruktur und -aktivität zurückgegriffen. Besonders Tomographien und Motion-Tracking haben dabei einen hohen Kosten- und Arbeitsaufwand. Diagnostik günstig, sensitiv und reliabel anbieten zu können beschäftigt das Forschungsfeld bereits seit vielen Jahren.

Neue Möglichkeiten mit Augmented Reality

Die Verfügbarkeit von Methoden der Virtuellen Realität (VR) und mittlerweile auch der „Augmented Reality“ („Erweiterte Realität“, AR), d.h. der Einblendung von virtuellen Objekten in das natürliche Blickfeld, ermöglicht eine ganz neue Herangehensweise in der Neurorehabilitation. Dies betrifft die Diagnostik ebenso wie das Training und die Abdeckung von Pflege- und anderen Dienstleistungen.

AR-Systeme werden bereits heute als der nächste Massenmarkt betrachtet – vergleichbar mit dem Aufkommen von Smartphones. Die Vorteile von AR sind die Mobilität der technischen Geräte, die ökologische Validität (die Möglichkeit, außerhalb des Labors, in natürlicher Umgebung zu messen), besonders durch nicht-obstruierende Anwendungen, und die geringen Anschaffungskosten; letztere sind bei aktuellen Geräten zwar noch relativ hoch, eine massive Kostenabnahme ist aber zu erwarten.

Für den Nutzer, in diesem Fall den Patienten, bieten AR-Systeme intuitive Interaktionen durch Sprach- und Gestenerkennung und eine mögliche Individualisierung der Anwendungen durch integrierte Diagnostik und eine mögliche telemedizinische Interaktion mit behandelnden Ärzten.

Projekt "Therapy Lens" zur Unterstützung von Demenzerkrankten

Am Lehrstuhl für Bewegungswissenschaft der Fakultät für Sport und Gesundheitswissenschaften an der Technischen Universität München wurde in den letzten Jahren Pionierarbeit in diesem Bereich geleistet. Mit einer Microsoft HoloLens, welche AR erlaubt, wurden im Rahmen des EIT-Health Projektes „Therapy Lens“ (www.therapylens.com) erste Schritte zu Diagnostik, Training und Assistenz bei Alltagsaufgaben bei Demenzerkrankten getätigt.

Erste Analysen zeigten nicht nur ein gesteigertes Interesse von Patienten und Angehörigen, sondern auch die Zuverlässigkeit der Tests und erfolgreiche Trainings. Verbesserungen zeigten sich insbesondere bei der Vermeidung und Korrektur von Handlungsfehlern. Aktuell läuft eine klinische Studie an, in welcher Patienten bei der selbstständigen Zubereitung von Tee unterstützt werden sollen.
 

Eine vielversprechende Pilotphase ist bereits abgeschlossen. In Zukunft können dann flexible Programme individuell auf die Defizite des Patienten zugeschnitten werden, sei es auf eine halbseitige Lähmung oder auf AADS unterschiedlichen Schweregrads.

Aussicht

Mit voranschreitender Entwicklung von Wearables und flexiblen, entwicklerfreundlichen Plattformen wird nicht nur die Bedeutung von VR und AR in der Neurorehabilitation eine immer größere Rolle spielen. Auf diese Weise kann die Unabhängigkeit der Patienten teilweise wiederhergestellt, sowie Angehörige und das Gesundheitssystem entlastet werden.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2018 März/April