Wir müssen das Narrativ ändern

Zukunftsforschung

Interview mit Carina Stöttner Managing Director Themis Foresight

Technik in Bayern: Frau Stöttner, könnten Sie uns einen Einblick in die Kernthemen der Zukunftsforschung bei Themis Foresight geben?

Carina Stöttner: Als Geschäftsführerin und Mitgründerin von Themis Foresight, einem vor zwei Jahren gegründeten ThinkTank, konzentrieren wir uns mit unserer Corporate Foresight auf Wirtschaft und Zukunft. Unser Hauptsitz ist in Berlin. Unsere Forschungsbereiche umfassen wirtschaftliche, politische gesellschaftliche und technologische Entwicklungen. Wir betrachten dabei Technologien wie Künstliche Intelligenz oder Quantencomputing. Aber: nicht nur Technologien führen zu disruptiven Veränderungen. Die Klimatransformation fasst zunehmend auch in der Wirtschaft Fuß. Zudem befassen wir uns mit geopolitischen Fragen, insbesondere der Zukunft Europas, wo soziale und wirtschaftliche Aspekte eng miteinander verknüpft sind. Wir versuchen nicht, die Zukunft vorherzusagen. Wir loten mögliche „Zukünfte“ aus und unterstützen Unternehmen dabei, sich mit verschiedenen Szenarien auseinanderzusetzen und eine langfristige Vision zu entwickeln, die als Leitstern dient und über kurzlebige Trends hinaus Bestand hat. Unsere Arbeit ist also eine Mischung aus Forschung und Beratung.

TiB: Können Sie uns ein Beispiel geben?

Stöttner: Seit einigen Jahren arbeiten wir mit einem Unternehmen im Lebensmittelbereich zusammen. Gemeinsam haben wir ein Zukunftsbild für 2035 entwickelt, in dem das Unternehmen klimaneutral sein will. Da das Unternehmen mit einem Rohstoff arbeitet, der hohe CO2-Emissionen erzeugt, war das eine Herausforderung. Das Unternehmen ist mittlerweile aber auf einem gutem Weg dahin. In der Energie-Krise hat das Zukunftsbild auch geholfen, sich nicht vom Ziel abbringen zu lassen und Umbauten anhand langfristiger Erfolge auszurichten, anstatt nur kurzfristige Kosten im Blick zu haben. Kürzlich haben wir eine Umfrage unter diesen Mitarbeitenden durchgeführt und festgestellt, dass einige von ihnen durch die Arbeit mit uns ihre Entscheidungsprozesse angepasst haben. Ein Mitarbeiter erzählte, dass sie durch die Beschäftigung mit Zukunft eher das Gefühl haben, dass sie mögliche Entwicklungen besser antizipieren können und dadurch – trotz krisengeprägter Jahre – deutlich zuversichtlicher sind.

Mit Unternehmen der Metall- und Elektro-Industrie haben wir unsere geopolitischen Szenarien durchgespielt und dabei festgestellt, dass die Ausrichtung ihres Geschäftsmodells oder auch ihre Produkte und Dienstleistungen sich in den meisten Szenarien verändern müssten. Keines dieser Szenarien wird genauso eintreten, aber es lohnt sich, einzelne Entwicklungspfade vorab zu durchdenken. Das gibt Entscheidungssicherheit und hilft, im Ernstfall deutlich schneller und durchdachter zu handeln.

TiB: Welche Herausforderungen in den Ingenieurwissenschaften sehen Sie?

Stöttner: Deutschland verfügt über eine starke Ingenieurstradition. Eine Herausforderung für die kommenden Jahre und Jahrzehnte ist die Anwendung dieses Wissens auf neue Bereiche, z.B. insb. auf Klima-Technologien und im Biotech-Bereich. Das kann im Kleinen sein, dass wir Ventile so weiterentwickeln, dass sie auch für grünen Wasserstoff geeignet sind und diese Innovationen weltweit exportieren und einsetzen. Das kann auch bedeuten, dass wir neue Technologien wie generative KI dafür nutzen, Material- und Energieeffiziente Konstruktionen zu entwickeln oder neue Materialien mit Quantencomputing zu entwickeln. Es geht darum, solides Grundwissen mit neuen Themen und Technologien zu verbinden. Die Verknüpfung der virtuellen und physischen Welt ist ebenfalls wichtig, da die Zukunft in einer vernetzten und digitalen Welt liegt. Wir müssen physische Innovationen in die digitale Welt übertragen, z.B. digitale Zwillinge von Maschinen.

Der globale Wettbewerb wird intensiver – das sorgt auch für Innovation! Ich glaube nicht an eine Deglobalisierung, die Welt ist viel zu vernetzt und komplex. Das bedeutet aber auch: Deutschland darf sich nicht zu sehr auf vergangenen Erfolgen ausruhen. Der Wettbewerb wird zukünftig auch aus Ländern kommen, die von vielen heute noch belächelt werden. Die Innovationen der Zukunft werden nicht nur aus China, sondern auch aus Kenia, Ruanda oder Nigeria kommen.

Wir müssen auch lernen, vernetzter zu denken, nicht nur geopolitisch – was können wir von anderen lernen – sondern auch ressourcen-seitig. In der Vergangenheit mussten wir aufgrund niedriger Energiekosten, billiger Kredite, vieler Rohstoffe und einem Markt voller Arbeitskräfte nicht effizient sein. Heute ist es aus ökologischen und ökonomischen Gründen sinnvoll, branchenübergreifend und synergetisch zu denken. Ein Beispiel hierfür ist die sinnvolle Nutzung von Abwärme aus Produktionsprozessen. Zukünftig muss modularer und von Anfang an integrativ gedacht werden.

TiB: Welche Länder sind Konkurrenten?

Stöttner: Wettbewerber bleiben vermutlich auch weiterhin China und die USA. Aber auch Indien und einige afrikanische Länder werden in den nächsten Jahren ein starkes Wirtschaftswachstum erleben. Wir müssen also weiterhin innovativ bleiben und daran arbeiten, globale Standards zu setzen. Im Wettbewerb um die niedrigsten Produktionskosten können und wollen wir u.U. nicht mithalten. Wir müssen also immer so viel besser sein, wie wir teurer sind – und somit den Wohlstand erhalten. Gute Bildung bleibt also das A und O.

TiB: Wie schätzen Sie die Zukunft hinsichtlich der Bewertung von Technologien ein? Glauben Sie, dass Technologien neben der Gewinnorientierung auch Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft haben werden?

Stöttner: Wir brauchen Technologien wie KI, Robotik und Quantencomputing. Ohne signifikante Migration fehlen uns in Deutschland bis 2035 mehrere Millionen Arbeitskräfte. Technologien könnten etwa ein Drittel dieser Lücke schließen. Daher müssen wir diese Technologien schnell vorantreiben und dürfen sie nicht im Keim ersticken. Gleichzeitig sollten wir nicht blindlings in neue Technologien investieren, ohne uns über deren Folgen Gedanken zu machen. Beim EU AIAct besteht die Gefahr, in eine Falle wie beim Datenschutz zu laufen. Der AI-Act könnte zu massiver Überbürokratisierung führen, Investoren abschrecken und gute Start-ups – auch im industrienahen Bereich – aus Europa vertreiben. Eine starre Regulierung, die mehr den Input als den Outcome einer Technologie bewertet, ist kontraproduktiv. Der Großteil derzeitiger Gesetze und Normen reichen aus, um essenzielle, aber monotone Tätigkeiten durch KI erledigen zu lassen und negative Konsequenzen zu vermeiden. KI ist eine wichtige Unterstützung für den demografischen Wandel und bietet enormes Potenzial. Während KI Monotones erledigt, brauchen wir die menschliche Intelligenz für die Lösung der wichtigsten Herausforderungen der nächsten Dekaden.

TiB: Gibt es in den sozialen Medien ausgefeilte „Angstkampagnen“ gegen neue Technologien?

Stöttner: Als Zukunftsforscher erleben wir oft die Angst vor der Zukunft. Zukunft wird gerade in Deutschland häufig schlechter wahrgenommen und bewertet als die Gegenwart. Dieses dystopische Zukunftsbild wird von Medien stark befeuert. Das beginnt bei dystopischen Science-Fiction-Filmen und hört bei Überschriften, die geklickt werden sollen, auf. Darauf springt unser menschlicher Negativitäts-Bias leider gut an, dabei zeigt der Blick in die Vergangenheit: die Welt wird eigentlich immer besser.

TiB: Wie könnten wir die Entwicklung neuer Technologien beschleunigen?

Stöttner: Es lohnt sich, auch sekundäre Effekte zu durchdenken. Wenn wir durch verbesserte Energiespeicher oder neue Energieerzeugungsmöglichkeiten günstiger produzieren können, erhöht das die Attraktivität Deutschlands als Industriestandort. Das zieht auch Innovatoren an, die wiederum neue Technologien entwickeln. In manchen Belangen müssen wir vielleicht kurzfristige ökonomische oder ökologische Kosten mit langfristigen Gewinnen aufwiegen.

Physikalische Lösungen sind finanziell als auch vom Entwicklungs-Aufwand her natürlich aufwendiger als z.B. eine Software-Applikation. Bessere steuerliche Anreize für Startups, eine Vereinfachung der Förderanträge oder die Gewährung eines bedingungslosen Forschungsgeldes könnten helfen. Auch der Staat als Großeinkäufer hat eine mächtige Rolle: in anderen Ländern beauftragen Militärs oder staatliche Organisationen bei Start-Ups hohe Volumen einer neuen Technologie und beschleunigen so den Entwicklungsprozess, während die neue Technologie an Schwung gewinnt, um auch kommerziell erfolgreich zu werden.

TiB: Zu den großen Krisen gehört nicht nur die Klimakrise, sondern auch u.a. Biodiversitätsverlust, Extremwetterereignisse und Wassermangel. Sehen Sie hier auch technologische Lösungen?

Stöttner: Ja, es gibt vielfältige Ansätze, sowohl im digitalen Bereich, wie z.B. digitale Zwillinge zur Steuerung der Wasseraufbereitung und des Wasser-Monitorings, als auch im Bereich des Quantencomputings, das einen Durchbruch in der Simulation biologischer Prozesse bedeuten könnte. Präzisionslandwirtschaft durch die Kombination von virtuellen und physischen Lösungen könnte ebenfalls verbessert werden. Hier können Düngemittel und Schädlingsbekämpfung dank Sensoren, Kamera-Auswertungen durch KI etc. gezielt nur bei den Pflanzen eingesetzt werden, die diese tatsächlich brauchen. Da wären wir wieder bei der vorhin genannten Effizienz. Hier haben wir noch einen weiten Weg zu gehen. Das Thema Wasser wird heute, zumindest in Deutschland, noch wenig diskutiert. Wir müssen es schaffen, weniger Grundwasser zu entnehmen und gleichzeitig weniger Wasser in die Atmosphäre zu entlassen.

TiB: Kann Technik die Lösung sein und ist die Gesellschaft dazu bereit?

Stöttner: Reiner Technooptimismus ist auch nicht die Lösung. Aber Technik ist ein entscheidendes Element für unseren Fortschritt. Technologien setzen sich durch, wenn die Gesellschaft dazu bereit ist und sie als Zugewinn wahrgenommen werden. Wir brauchen neue Narrative. Paradigmen ändern sich, z.B. ist der Airbag bis heute nicht verpflichtend, trotzdem hat jedes neue Auto einen – er ist ein Zugewinn an Sicherheit. Vielleicht sehen wir das auch zukünftig: der Verzicht auf das Auto als Reisemittel von Stadt zu Stadt und die Nutzung der Bahn wird mitunter als ein Zugewinn an Freiheit erlebt – mehr Zeit zu arbeiten, weniger Parkplatzsuche.

TiB: Wie schätzen Sie die Resilienz unserer Wirtschaft und Gesellschaft hinsichtlich der Bewältigung all dieser Herausforderungen ein?

Stöttner: Wir sind widerstandsfähiger, als wir denken. Mitunter folgen wir dem falschen Narrativ, das uns sagt: wir können die Herausforderungen der nächsten Dekaden nicht schaffen. Das hat eine lähmende Wirkung. Aber: viele solcher Prognosen der letzten 100 Jahre waren falsch, oft kamen unvorhersehbare Brüche, die alles zum Besseren verändert haben. Wir sollten uns ein positiveres Narrativ verpassen: Wir können das schaffen. Veränderung ist möglich. Das gibt uns Gestaltungsmacht zurück.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2024 MÄR/APR

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