Beitrag von Prof. Dr. Florian Holzapfel Lehrstuhl für Flugsystemdynamik TU München
Fliegen ist heute eine Alltagsangelegenheit und so erregen „normale“ Luftfahrtthemen in der Öffentlichkeit kein großes Aufsehen mehr – ganz anders sieht es bei den „Lufttaxis“ aus, der Urban Aerial Mobility. Auch wenn zum aktuellen Zeitpunkt noch nirgends Regelbetrieb stattfindet, das Thema ist in aller Munde.
Dank des rasanten Fortschritts in vielen Gebieten der Technik und Wissenschaft hat sich ein Fenster aufgetan, das es plötzlich erlaubt, fliegende Systeme zu bauen, die noch vor kurzem undenkbar gewesen wären – geprägt von Automation und Elektrifizierung ist die dritte Revolution in der Luftfahrt angebrochen. Vollmundig verspricht eine unüberschaubare Zahl an alten und neuen Firmen nicht weniger als die massenhafte Nutzung der dritten Dimension für alltägliche Transportaufgaben – bis hin zum Ende lästiger Staus ganz egal ob Sir Isaac Newton für oder gegen den eigenen Ansatz spricht. Und weil wir in Deutschland sind, werden natürlich bevorzugt die Risiken und an allererster Stelle die sozialen Aspekte diskutiert.
Tritt man einen Schritt zurück und holt tief Luft, bleiben auch bei nüchterner Betrachtung viele interessante Einsatzgebiete und Anwendungen für die neue fliegende Mobilität übrig – zum Nutzen für alle und auch dann, wenn es sich nicht wirklich um eine nachhaltige Lösung für den Stau am Boden handelt (Senkrechtstart und -landung erfordern viel Energie – da braucht es schon ein im Reiseflug sehr wirtschaftliches Flugzeug und eine ausreichend große Strecke, um dies gegenüber einem bodengebundenen Transportmittel mit ebenso effizienten Komponenten wieder zu kompensieren).
Gerade dann, wenn man über kurze Strecken viel Zeit gewinnen kann – etwa in gebirgigen oder inselreichen Gebieten, in Gegenden mit schlechter Bodeninfrastruktur oder Sicherheitslage oder bei gar fehlender Verkehrsanbindung kann Fliegen sehr schnell ein sinnvoller Anteil von Mobilitätsketten werden – und bei ausreichender Stückzahl und sinnvoll niedriger Anforderung an den Bediener auch für jeden leistbar.
Das hohe Sicherheitsniveau in der kommerziellen Luftfahrt wird durch die Einhaltung von Vorschriften erzwungen. Dazu müssen der Flugzeugentwurf („Design“), der aktuelle Zustand des jeweils verwendeten Flugzeuges („Produktion“ und „Wartung“), die Betreiberorganisation („Operateur“) sowie der aktuelle Bediener („verantwortlicher Luftfahrzeugführer“, auch wenn er nicht zwingend an Bord ist) eine Vielzahl von Anforderungen erfüllen. Außerdem muss sichergestellt sein, dass der Betrieb mehrerer Flugsysteme zu keinen gefährlichen Wechselwirkungen der Luftfahrzeuge untereinander wie Kollisionen, negativer Beeinträchtigung von Navigationssystemen oder aerodynamischer Interaktionen (z. B. Wirbelschleppen) sowie mit der Umgebung führt – hierzu bedarf es einer übergeordneten Koordination, die durch Flugführungsregeln sowie durch Flugsicherungs- und -managementmaßnahmen sichergestellt wird.
Für sämtliche der oben genannten Bereiche gibt es eine Vielzahl von technischen und organisatorischen Anforderungen, die in Europa von der EASA (European Union Aviation Safety Agency) erlassen und über europäische und nationale Verordnungen und Gesetze rechtsverbindlichen Charakter bekommen. Ähnliche Strukturen findet man in vielen wirtschaftlich entwickelten Bereichen der Welt, andere lehnen sich an die amerikanische oder europäische Vorschriftenlage an.
Wie hingegen die Anforderungen zu erfüllen sind, ist nicht festgelegt, vielmehr möchte man hier bewusst die Freiheit aller Beteiligten möglichst wenig einschränken. Dies versetzt jedoch alle in die Pflicht, Umsetzungs- und Nachweismethoden für die Anforderungen zu finden, die von EASA oder sonstigen Zulassungsbehörden akzeptiert werden – man spricht hier von sogenannten „Acceptable Means of Compliance“ (AMC). Prinzipiell bleibt es jedem offen, ureigene Lösungsansätze zu erarbeiten und die Zulassungsbehörden von diesen zu überzeugen. In der Praxis findet hier aber typischerweise eine enge Zusammenarbeit über Herstellergrenzen hinaus und mit den Behörden eng abgestimmt statt, um unter dem Dach verschiedener Institutionen (z. B. EUROCAE, JARUS, ASTM, RTCA, SAE, …) Vorschläge für diese AMCs zu erarbeiten, die dann von den Zulassungsbehörden als zulässige Lösungen deklariert („endorsed“) werden.
Wie sieht es an der Stelle mit der „Urban oder Advanced Aerial Mobility“ aus? – Gibt es schon Vorschriften und AMCs? Wie passen die zu den für einen Erfolg erforderlichen Randbedingungen? (niedrige Kosten, große Stückzahlen). Um einen klaren Fokus zu behalten – lassen Sie uns auf die Situation für senkrecht startende und landende Flugtaxis in Europa konzentrieren.
Zunächst – manche Hersteller versprechen bereits heute „autonomen“ Betrieb – sie meinen damit, dass kein qualifizierter Bediener mehr an Bord des Flugsystems sitzt, sondern sich dort nur noch Passagiere befinden. – Für diesen Anwendungsfall sieht die EASA einen „Betriebstyp 2“ für zugelassene Drohnen vor. An dieser Stelle fehlen die rechtlichen Grundlagen und regulatorischen Anforderungen noch bei weitem, die EASA bringt sofort für den anfänglichen Lufttaxi Betrieb derer, die irgendwann „autonom“ fliegen wollen als Übergangslösung einen „Betriebstyp 3“ ins Spiel, der zwar das Thema Lufttaxi bereits in Richtung der Drohnen zieht, aber immer noch einen Piloten an Bord vorsieht. Spannend ist, dass auch für später die Behörde von „remotely piloted“ – also quasi ferngesteuert spricht und nicht von „autonom“. Auf einen klar benennbaren Menschen, der als „verantwortlicher Luftfahrzeugführer“ letztendlich die Verantwortung für einen konkreten Flug trägt, auch wenn er gar nicht an Bord ist, will man so bald nicht verzichten.
Als Basis für die Zulassung von Lufttaxis zieht die EASA die „CS-23 Amendment 5“ heran – die Zulassungsvorschrift für kleinere Flächenflugzeuge. Trotz Senkrechtstart und -landung bilden eben nicht die Regularien für Hubschrauber die Grundlage. Darauf aufbauend gibt es eine „Special Condition Vertical Take-off and Landing Systems“ (SC-VTOL) die durch zusätzliche Anforderungen aus dem Hubschrauberbereich oder aber gänzlich neue Vorschriften die rechtliche Grundlage für Senkrechtstarter bis zu neun Passagieren schafft. Dabei werden, um eine gewisse Proportionalität in den Sicherheitsanforderungen zu schaffen, zwei Hauptkategorien unterschieden – Basic und Enhanced.
Will man in urbanem Gebiet operieren oder kommerziellen Personentransport betreiben, muss man in die Kategorie „enhanced“. An dieser Stelle fängt der Schmerz an. Die festgelegten Sicherheitsziele entsprechen hier in etwa den Anforderungen wie sie auch an moderne Verkehrsflugzeuge gestellt werden – ein zulässiger Totalverlust infolge technischer Ursachen in einer Milliarde Flugstunden. Dies zieht hohe Anforderungen an Redundanz, Komponentenqualität, Entwicklungsprozesse und Nachweisverfahren nach sich – und damit gewaltige Kosten. Ist hier das vorgegebene Ziel übertrieben? – Hier schießen manche der Marktteilnehmer sich und ihren Mitbewerbern mit ihren überbordenden Prognosen vieler zehntausender Flugsysteme ins Knie. Geht man wirklich von einer solch großen Zahl an Systemen aus, muss natürlich auch das Sicherheitsziel sehr sportlich sein, damit nicht ständig Luftaxis aus dem Himmel fallen. Nichtsdestotrotz wäre es schön, wenn die EASA hier für weniger ambitionierte Hersteller mit bodenständigen Prognosen einen ausgewogeneren Ansatz finden würde – schließlich darf man auch Hubschrauber bei wesentlich niedrigeren Anforderungen kommerziell betreiben.
Fällt bei einem klassischen Fluggerät der gesamte Antrieb aus, so bleibt es voll steuerbar – Starrflügler können gleiten und auch bei Hubschraubern gibt es die sogenannte Autorotation, wobei der Rotor mit „Fahrtwind“ auf einer hohen Drehzahl gehalten wird und diese Energie dann kurz vor dem Boden verwendet wird, um die Sinkrate signifikant zu reduzieren.
Fast alle neuen eVTOL Systeme werden im Schwebeflug über schnelle Drehzahländerungen der vielen Hubpropeller gesteuert. An dieser Stelle kommt den Antrieben (auch Lift Thrust Unit – LTU genannt) plötzlich eine viel kritischere Rolle zu, sie werden Teil der primären Flugsteuerung. Dies erfordert unmittelbar, dass man das System auch beim Ausfall einzelner Antriebe sicher weiter betreiben können muss, d. h. es ergeben sich strenge Redundanzanforderungen an die Zahl der LTUs, deren unabhängige Energieversorgungseinheiten und deren Ansteuerung. Während bei klassischen Flugzeugen auch nach dem Ausfall relativ vieler Steuerflächen noch ein sicherer Weiterflug bis zu einer Landung möglich ist, etwa, wenn die Hälfte aller Stellantriebe für die Steuerflächen ausgefallen ist, verkraften die meisten eVTOL Entwürfe viel weniger Ausfälle bis zum Verlust der gesteuerten Flugfähigkeit.
Hier kommt ein Thema ins Spiel, das sich „Common Mode Failure“ nennt – frei vielleicht übersetzt als „Versagen auf dieselbe Art“ . Bei jeder Komponente, besonders wenn sie eine höhere Komplexität aufweist (und davon wird sofort ausgegangen, wenn digitale Schaltkreise und Software beteiligt sind) besteht immer die abstrakte Gefahr, dass durch einen systematischen Fehler in Spezifikation, Entwurf, Fertigung oder Wartung alle baugleichen Komponenten gleichzeitig ausfallen. Nimmt man das Beispiel oben, dass ein klassisches Flugzeug mit der Hälfte seiner Stellflächen noch landen kann bedeutet dies, dass man dem Problem durch zwei verschiedene Komponententypen bei der Stellelektronik beikommen kann. – Man spricht dann von Hardwaredissimilarität. Bei einem eVTOL würde aber ein Verlust von 50 % der Antriebe nicht auf einmal verkraftet werden können. Also ergeben sich hier spannende Herausforderungen, für die die verschiedenen Hersteller gerade jeweils ihre Lösungen suchen.
Die Ansteuerung der Elektromotoren erfolgt dabei wie deren eigene Regelung fast ausschließlich digital. Daraus resultiert, dass die eVTOLs sofort „Fly-by-Wire“, also elektronisch gesteuerte Flugsysteme sind. Bedenkt man, dass heute nach wie vor die Mehrzahl der kleineren zivilen Flugsysteme, egal ob Hubschrauber oder Starrflügler, über klassische mechanische Steuerungen verfügen und die „billigsten“ echten Fly-by-Wire Flugzeuge einen stabilen zweistelligen Millionenbetrag kosten, sieht man, dass hier auf der Kostenseite noch einiges zu leisten ist, bevor man die hohen Stückzahlprognosen Wahrheit werden lassen kann – vor allem für Entwicklung und Zulassung werden zunächst hohe Beträge fällig. Synergien mit den steigenden Sicherheitsanforderungen bei der Automation im Automobilbereich versprechen hier aber interessante Perspektiven.
Eine weitere Herausforderung stellt die erforderliche Bedienerqualifikation dar. Erfordert das Fliegen eines eVTOL eine klassische (Berufs-)pilotenlizenz, im schlimmsten Fall noch in Anlehnung an die eines Berufshubschrauberführers, so ist es naheliegend, dass der Skalierbarkeit der Stückzahlen sehr schnell Grenzen gesetzt sind. Neben neuen Ausbildungsansätzen (z. B. Virtual Reality Simulatoren) muss daher v.a. die Komplexität der Bedienung möglichst gesenkt werden – man spricht hier von SVO „Simplified Vehicle Operation“. Ziel ist es, den Ausbildungsaufwand in etwa auf den eines Autoführerscheins zu reduzieren. Auch hier wird bereits an rechtlichen Grundlagen und technischer Umsetzung gearbeitet. Für die Bedienung im Normalfall ist das auch greifbare Realität – aber in Ausfallsituationen wird heute auch bei teuren Großflugzeugen sehr schnell auf die Fertigkeiten des Menschen zurückgegriffen. Bei einem niedrigen Ausbildungsstand wäre dies nicht mehr möglich. Erfolgreich ist man hier nur, wenn die Automation auch in schweren Aus- und Notfallsituationen weitgehend das Fliegen übernimmt, so dass die Bedienenden nach wir vor dem Flugsystem nur ihre „Bewegungsabsicht“ mitteilen müssen und über haptisches, akustisches und optisches Feedback subtil einen intuitiven Eindruck von den verbleibenden Fähigkeiten des angeschlagenen Fliegers vermittelt wird.
Um zu einem nutzbaren Verkehrsmittel zu werden, wird eVTOLs eine hohe Verfügbarkeit abverlangt. Für Sightseeingzwecke mag es ausreichend sein, bei Windstille und Sonnenschein zu fliegen – für sinnvolle Anwendungen ist Allwetterfähigkeit gefordert. Das bedeutet zunächst dedizierte Start- und Landeinfrastruktur mit genau definierter Hindernisfreiheit, so dass zu jedem Zeitpunkt des Fluges unter allen Umständen ein sinnvoller Flugabbruch möglich ist. Neben den durch die angesprochene SC-VTOL abgedeckten Aspekten gibt es hier bereits zahlreiche Entwurfsstände bezüglich der Anforderungen an Vertiports (genauer aufgeteilt in Vertistations/stops, Vertiports und Vertihubs) – der Traum vom Starten im eigenen Garten und des Landens vor dem Supermarkt bekommt damit schon einen Dämpfer.
Auch bei Nacht und schlechter Sicht muss gewährleistet sein, dass man sicher und ohne gefährliche Annäherung an Hindernisse vom und zum Vertiport geleitet wird. Ein Verlass auf das Raumsegment von Satellitennavigationssystemen allein ist hier nicht ausreichend, um die erforderliche Integrität sicherzustellen, also sich zu jedem Zeitpunkt darauf verlassen zu können, dass die aktuelle Genauigkeit wirklich der erwarteten entspricht. Auch hier bedarf es technischer Lösungen, die von Ihrer Kostenstruktur dem Marktsegment entsprechen und die Sicherheit nicht nur unter dem Aspekt „Safety“, sondern auch der „Security“, also böswilliger absichtlicher Eingriffe in den Flugbetrieb berücksichtigen.
Berücksichtigt man die geringen Energiedichten aktueller Batterien, so gehen den eVTOLs im Schwebeflug nach einem Reiseflug sehr schnell die Luft aus. Hier darf man erwarten, dass die vorzuhaltenden Restschwebezeiten deutlich über das hinausgehen werden, was einige Hersteller heute so als sinnvoll kommunizieren. Was also, wenn die Landefläche nicht frei ist? – Das darf nicht passieren. Daher müssen Flugrouten räumlich und zeitlich genau durchgeplant sein. Auch die Einhaltung sicherer Staffelungsabstände zu anderen Luftfahrzeugen sowie die Berücksichtigung weiterer Randbedingungen – Lärm, Hindernisfreiheit, meteorologische Einflüsse – sind nicht möglich, wenn einfach jeder vor sich hinfliegt. Eine klassische Flugsicherung über menschliche Fluglotsen würde sehr schnell an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen – also bedarf es automatisierter Verfahren sowohl für die strategische Komponente (Planung, Koordination und Genehmigung von Flugplänen) als auch die taktische (operative Kollisionsvermeidung, ad-hoc Umplanung in Ausfallsituationen). Hier lehnt man sich sehr an die Vorhaben und Vorgehensweisen an, die gegenwärtig für unbemannte Flugsysteme entwickelt werden. Als nationale Player auf dem europäischen Gebiet U-Space seien etwa DRONIQ oder SkyRoads genannt.
Dieser Artikel reißt nur einige der Herausforderungen an, die sich auf dem Weg zur neuen Mobilität in der Luft stellen. Das Ziel wird von Träumen und Visionen beschrieben, die lautstark präsentiert werden. Das ist gut so – und es hat seine Berechtigung, gibt es doch zahlreiche sinnvolle Anwendungen, wo die neue fliegende Mobilität Verbesserungen für alle verspricht. Der Weg dahin besteht aus harter und nüchterner fachlicher Arbeit von Ingenieuren und Wissenschaftlern, Schritt für Schritt mit Mut und Klugheit. Es ist beeindruckend zu sehen, wie schnell hier gerade der tatsächliche Fortschritt ist – bei Gesetzgebung, Vorschriften, Technologien und Lösungen.
Das meiste passiert eher still und leise und nicht unbedingt da, wo großes Getöse gemacht wird, gerade auch bei Startups, Mittelständlern und Komponentenherstellern. Wir sind in der dritten Revolution der Luftfahrt – eine spannende Zeit und eine riesige Möglichkeit für neue Unternehmen, junge Nachwuchskräfte, unsere Wirtschaft aber auch für unser Land. Schneller als mancher denkt, werden wir neue Stars am Himmel fliegen sehen. Seien wir tapfer und geben wir dem Fortschritt eine Chance. Per aspera ad astra.
Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 02/2022 JUL/AUG