Wasser für eine Millionenstadt

Interview mit Dipl.-Ing. Rainer List, Leiter der Wassergewinnung der Stadtwerke München.

Die Versorgung von mehr als 1,6 Mio. Einwohnern mit Wasser ist eine Herausforderung. Dazu sprachen wir mit Dipl.-Ing. Rainer List, Leiter der Wassergewinnung der Stadtwerke München.

TiB: Herr List, die Geschichte der modernen Wasserversorgung Münchens beginnt im späten 19. Jht. Wie kam es dazu?

Rainer List: München war damals gefürchtet – eine Stadt ohne Kanalisation, in der Typhus und Cholera beständig grassierten, weil man die Bürger mit Trinkwasser aus dem städtischen Untergrund versorgte, das durch Sickerwasser stark verschmutzt war. 1880 erkannte der Mediziner Max von Pettenkofer den Zusammenhang und beantragte eine Wasserversorgung aus Gebieten weit außerhalb der Stadtgrenzen. 1881 genehmigte das königliche Amt die Wasserfassung aus dem Mangfalltal. In nur zwei Jahren wurden eine Hangquelle erschlossen, eine Zuleitung nach München (Freispiegelanlage*), ein unterirdischer Hochbehälter als Zwischenpuffer und eine Leitung nach München gebaut. Die Errichtung dieser 35km mit Klinkersteinen gemauerten Rohrleitung, verlegt mit 4 Promille Gefälle war eine ingenieurmäßige Meisterleistung. Durch die Versorgung mit sauberem Trinkwasser und dem Bau eines Kanalnetzes begann München stark zu wachsen. 1893 wurde die Hangquelle Gotzing erschlossen und dann mit einer Bauzeit bis 1912 die Grundwasserfassung Reisach. Diese drei Anlagen sind bis heute in Betrieb und der Grundstock der Münchner Wasserversorgung.

TiB: Gibt es noch mehr Wasserfassungen für München?

List: Bedingt durch das starke Wachstum der Stadt wurde in den 1950er Jahren die Münchner Schotterebene mit TiefbrunnenAnlagen erschlossen. 1984 wurde dann das zweite Grundwasserstockwerk in Oberau – ein unter Druck stehender artesischer Wasserkörper* für die Wasserversorgung Münchens erschlossen. Auch von hier wird das Wasser durch das natürliche Gefälle ohne Pumpleistung nach München gebracht.

TiB: Wieviel Wasser braucht München?

List: Der Bedarf liegt zwischen 300.000 und 350.000 m3 am Tag und 75 – 80 % dieses Bedarfs kommen aus den historischen Anlagen im Mangfalltal – eine phantastische Planung.

TiB: Genießt München bei der Wasserversorgung einen Sonderstatus?

List: Generell sind wir in München sehr privilegiert durch die naturgegebene Lage. Zum einen liegen die Gewinnungsgebiete 30 – 40m höher und wir können das Wasser buchstäblich nach unten laufen lassen. Und dann beträgt der Höhenunterschied in der Stadt von Süden nach Norden 100m. Das sind 10bar Wasserdruck – viel zu viel für einen Hausanschluss, weshalb die Stadt in drei Druckstufen zur Druckreduzierung unterteilt ist, um die Haushalte mit 6bar zu versorgen. Auch das ist sehr ungewöhnlich, denn in der Regel ist der Wasserdruck nicht ausreichend.

TiB: Wie hoch ist die Wasserqualität?

List: Ich behaupte, das Münchner Trinkwasser ist eines der Besten in ganz Europa. Es gibt die Trinkwasserverordnung und hier unterschreiten wir alle Grenzwerte. Zum Beispiel hat unsere Hangtalfassung Gotzing eine Laufzeit von 22 – 25 Jahren. Das heißt, ein Wassertropfen, der dort versickert, ist mindestens 20 Jahre unterwegs, bis er in unsere Anlagen kommt und er hat in dieser Zeit eine natürliche Reinigungsleistung erfahren.

Und unser Wasser schmeckt hervorragend, das liegt u.a. am hohen Kalkgehalt. Kalk gibt dem Wasser seinen Geschmack. Außerdem hat Kalk eine Schutzfunktion für die Rohrleitungen, die sich mit einer Kalkschutzschicht quasi selbst auskleiden. Dadurch wird Korrosion verhindert.

TiB: Wie wird die Versorgungssicherheit einer Großstadt gewährleistet?

List: Jeder Wasserversorger muss sicherstellen, dass auch beim Ausfall einer Anlage die Versorgung gewährleistet ist. Hier kommt es in der Regel zu Nachbarschaftshilfe. Für München gilt das nicht, denn es gibt keine annähernd großen Versorger in der Nähe, die München notversorgen könnten. Also müssen wir die Redundanz durch die drei Gewinnungsgebiete selbst herstellen. Diese sind naturräumlich weit getrennt. Damit können wir jederzeit auch bei Ausfall einer Gewinnungsanlage München versorgen.

TiB: München wächst immer noch weiter. Wie stellt man die Wasserversorgung in Zukunft sicher?

List: Diese Frage nach der Quantität ist sehr wichtig und um sie zu beantworten, müssen wir sowohl Untergrund als auch Fließbewegungen des Grundwassers exakt ermitteln. Hier steigen wir in die Ingenieurtechnologie ein. Im Rahmen eines umfangreichen Onlinemonitoring wird mit einer großen Anzahl von Pegeln der Grundwasserstand laufend erfasst. Die Pegel werden digital in Prozessleitsystemen übertragen und sind jederzeit verfügbar. Wichtig sind auch Erkenntnisse über den Vorfluter, das heißt in unserem Fall wieviel Wasser haben die Mangfall und die Schlierach, denn Veränderungen in den Flüssen haben einen Einfluss auf das Grundwasser. Ein Flussbett setzt sich im Laufe der Jahre mit Sedimenten zu und ist dicht. Mit der Zunahme von Starkregen steigt der Wasserstand in den Flüssen und benetzt auch Uferregionen, die nicht dicht sind. Damit dringt im Hochwasserfall ggfs. verunreinigtes Flußwasser ins Grundwasser. Eine fundierte umfängliche Kenntnis der Fließbewegungen im Grundwasser und der Geologie ist für die Steuerung der Gewinnungsanlagen zwingend notwendig. Die wasserundurchlässige Schicht – der Wasserstauer – ermitteln wir z. B. über seismische Messungen und Refraktionsmessungen. Um den Grundwasserkörper dann richtig bewirtschaften zu können, haben wir in einigen Bereichen ein mathematisches Grundwassermodell aufgebaut, mit dem wir Simulationen des Grundwasserkörpers durchführen können. Diese Simulationen sind auch Grundlage für Bewilligungs- und Genehmigungsverfahren. Momentan erstellen wir ein mathematisches Modell der Schotterebene, um herauszufinden, wie sich der Wasserspiegel bei unterschiedlichen Niederschlags- und Wasserfassungsmengen im gesamten Gebiet verhält (s. Abb.).

TiB: Wir haben über die Wassergewinnung gesprochen. Wie sieht die Wasserversorgung innerhalb der Stadt München aus?

List: Die Landeshauptstadt München hat ungefähr 3.400 km Rohrnetz und hier gibt es Wasserverluste – durch Rohrbruch, undichte Muffen und durch Beschädigungen bei Bauarbeiten. Diesen Wasserverlust möchten wir gerne in den Griff bekommen und haben dazu einige Projekte aufgelegt. Wir betreiben ein Wasserverlustmanagement durch das Aufstellen von Bilanzzonen. Hier haben wir einen definierten Eintritt des Wassers in diese Zone und einen über einen Zeitraum berechneten Verbrauch von Wasser in der Nacht. Nachts ist die Abnahme am geringsten und der Druck am höchsten. Wenn wir diese Zahlen in ein mathematisches Modell mit vielen Meßpunkten einbringen, dann können wir durch Abweichungen vom Normverbrauch Leckagen entdecken. Das Projekt läuft seit ca. vier Jahren und wir haben jetzt ein knappes Viertel der Stadt in Zonen eingeteilt.

TiB: Welche Bedeutung hat die Digitalisierung generell für die Wasserversorgung?

List: Die Steuerung unserer Pumpen und Regelkreise geschieht aus Sicherheitsgründen keinesfalls über das Internet. Die Stadtwerke sind ein KRITIS-Unternehmen* und wir werden auch regelmäßig geprüft. Für diese ISMS-Zertifizierung* haben wir ein geschlossenes Prozessleitsystem. Sämtliche digital erfassten Werte werden in Datenbanken gespeichert und dort weiterverarbeitet. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass wir nicht alle Prozesse automatisiert haben, denn gerade unsere alten Anlagen werden von Hand gesteuert, sie würden auf Fernsteuerung zu empfindlich reagieren. Aus Sicherheitsgründen kommunizieren wir über ein eigenes Leitungsnetz über Lichtwellenleiter und wir können bei Störungen auch von jedem Standort aus separat steuern.

TiB: Ist die Quantität der Wasserversorgung auch in Zukunft gesichert?

List: Die Situation wird sich in Zukunft verändern. Primär ist unser Wasserpotential enorm hoch: Wir haben im Mangfalltal und im Garmischer Gebiet doppelte Grundwasserneubildung, sprich, die Menge Wasser, die sich neu bildet und die wir entnehmen hat ein Verhältnis von 2:1. Aber leider haben wir für das Garmischer Gebiet die Wasserrechte nicht, und das wird uns in Zukunft stark beschäftigen.

TiB: Was hat es mit den Wasserrechten auf sich?

List: Wasserrechte sind ein schwieriges Thema. Beispielsweise gibt es im Mangfalltal sog. Altrechte. Diese Altrechte basieren auf dem Wasserrecht von 1850. Damals erwarb man mit einem Grundstück auch das Recht an dem Wasser unter dem Grundstück. Die Erbauer der Anlage im Mangfalltal haben 1883 die Grundstücke erworben und somit auch die Wasserrechte. Im Jahre 1907 wurde das Wasserrecht reformiert und das Recht, Wasser zu fördern und zu verteilen, ging auf den Staat über. Die bis dahin vergebenen Altrechte wurden überschrieben und gelten bis heute weiter. Für unsere Wasserfassungen im Mangfalltal, in Reisach und Gotzing ist das sehr wichtig, allerdings ist eine technische Ertüchtigung der Anlagen wie z. B. eine Pumpeninstallation ausgeschlossen, denn dann erlöschen die Altrechte. Im Gegensatz dazu haben unsere anderen Anlagen auslaufende Rechte – meist zwischen 20 und 30 Jahren, die ich dann immer wieder ganz neu beantragen muss.

Das Interview führten Peter Hotka, Fritz Münzel und Silvia Stettmayer

Anmerkung

Freispiegelanlage: Wasser, das in freiem Gefälle läuft, in einem Rohr mit einem eiförmigen Querschnitt gefasst.

Artesischer Wasserkörper: Wasser in einer Senke unterhalb des Grundwasserspiegels, das unter Überdruck steht.

KRITIS: Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.

ISMS-Zertifizierung: Ein Information Security Management System (ISMS) definiert Regeln und Methoden, um die Informationssicherheit in einem Unternehmen oder in einer Organisation zu gewährleisten.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2022 März/April