Die erste elektrische Lokomotive der Welt

Im Blick der Zeitgenossen

Beitrag von Frank Dittmann

In vielen Aufsätzen zur Geschichte elektrischer Bahnen wird die erste elektrische Lokomotive, die Werner Siemens 1879 auf der Berliner Gewerbeausstellung der Öffentlichkeit vorstellte, als Startpunkt betrachtet. Im Rückblick ist diese Zuschreibung sicher richtig, aber wie sahen das die Zeitgenossen? Dieser leicht gekürzte Bericht von 1879, der in einem Sonderdruck eines Fachjournals etwa 1 ½ Seiten einnimmt, vermittelt einen Eindruck der damaligen Ansichten.

Erklärungsbedürftige Anlage

Die Beschreibungen des Berichts mögen heute weitschweifig erscheinen - dies verweist nicht zuletzt darauf, dass elektrische Anlagen damals fast unbekannt und deshalb viel erklärungsbedürftiger waren als heute, wo sie zu einer unverzichtbaren Selbstverständlichkeit geworden sind.

Bericht über die elektrische Lokomotive von Werner Siemens

Sonderdruck von 1879

"Die elektrische Eisenbahn ist auf dem zwischen der Maschinenhalle und der Grenze des Ausstellungsraumes befindlichen Hofraume angelegt. Nach den Mittheilungen des Herrn Dr. Siemens hat die erste Veranlassung zu der Einrichtung eine Anfrage des Baumeisters Westphal aus Cottbus … gegeben. Der Genannte hatte nämlich eine Bemerkung über die Möglichkeit des Transports der Kraft des Niagarafalles gelesen, und wollte hier eine ähnliche Anwendung in der Praxis versuchen … Der Versuch ist gut ausgefallen und hat zu der Anlage der elektrischen Bahn … geführt … Es sind zwei Schienengeleise …, welche … ringförmig in sich zurückgehen, in der Länge von etwa 300 Metern angelegt.

In der Mitte befindet sich eine isolirte dritte Schiene … Die Lokomotive trägt zwei Rollen, mit welchen sie mit der isolirten Mittelschiene in Verbindung steht; im Uebrigen bildet der wesentliche Bestandtheil der Lokomotive eine elektro-dynamische Maschine, deren einer Pol mit der Mittelschiene und deren anderer Pol durch die äußeren Räder mit den Außenschienen leitende Verbindung hat. In gleicher Weise steht auch die stromerzeugende Maschine in der Maschinenhalle durch einen Pol mit der Mittelschiene und durch den anderen Pol mit den äußeren Schienen in Verbindung. Wo also die in der Lokomotive angebrachte dynamische Maschine sich auf der Bahn befindet, wird sie von dem in der Maschinenhalle erzeugten elektrischen Strome durchlaufen und in Rotation versetzt, welche sich auf die Räder der Lokomotive mittheilt; letztere setzt ihren Lauf so lange fort, bis der Strom unterbrochen wird.

Etwaige mangelhafte Isolation der Schienen ist von keiner erheblichen beeinträchtigenden Wirkung. Ist die Lokomotive im Gange, so bilden ihre Leitungsdrähte eine viel bessere Leitung als die feuchte Erde; ist die Leitung unterbrochen, so genügt die feuchte Erdleitung nicht, die dynamoelektrische Wirkung im Gange zu halten … Bei der Beurtheilung der Leistungen der in der Ausstellung aufgestellten elektrischen Lokomotive ist zu berücksichtigen, dass dieselbe nicht für ihren gegenwärtigen Zweck gemacht ist, welcher darin besteht, die hinter ihn hängenden 3 eleganten kleinen Personenwagen mit 18 – 20 Personen in 1 – 2 Minuten über die 300 Meter lange Kreisbahn zu befördern, sondern daß sie ursprünglich dazu bestimmt war, aus dem Kohlenstollen des Baumeisters Westphal Kohlen zu Tage zu fördern.

Nichtsdestoweniger sind die Leistungen der Lokomotive schon sehr beachtenswerthe und geben die Gewißheit, daß es jetzt schon viele Fälle giebt, wo elektrische Lokomotiven praktisch mit Vortheil verwendbar sind. Die Frage der Ausdehnung, welche der Anwendung der dynamo-elektrischen Lokomotiven möglicher Weise zu geben sein wird, ist nach den bis jetzt vorliegenden Erfahrungen schwer zu entscheiden. Sie hängt, abgesehen von der Möglichkeit einer hinreichenden Isolirung, von dem Leitungswiderstande der Schienen ab. Nach Ansicht des Herrn Siemens wird sich dies Erforderniß bei längeren Bahnen zum Theil dadurch erreichen lassen, daß von Zeit zu Zeit neue primäre Dynamomaschinen aufgestellt werden, welche die zum Betriebe der Lokomotive nöthige elektrische Spannung zwischen der mittleren und den äußeren Schienen aufrecht erhalten.“ [sic!]

Literatur

E. Hoffmann: Die Telegraphie und Elektro-Technik auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung im Jahre 1879. Sonderdruck aus: Archiv für Post und Telegraphie 1879, Nr. 14. Berlin 1879; Zitat S. 17-19

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2019 Juli/August