Eine Textilmaschine digitalisiert die Welt

Die revolutionären Jacquard-Webstühle

Beitrag der Lindauer DORNIER GmbH, aus: Insider Nr. 18, S.4-5

Heute ist allerorten von „digitalem Zeitalter“ oder „Industrie 4.0“ die Rede. Nur wenige wissen indes, wie vor über 200 Jahren in der französischen Seidenwebermetropole Lyon die Grundlage für diese Entwicklung gelegt wurde: durch die Weiterentwicklung des  digital gesteuerten Webstuhls von Vaucanson trug Joseph-Marie Jacquard entscheidend zur industriellen Revolution bei. Dies gelang Jacquard mit einer entscheidenden Verbesserung und einem durchdachten Steuerungssystem.

Jacquard-Webstuhl Joseph-Marie Jacquard

Ohne Zweifel gilt der Jacquard-Webstuhl als Meilenstein in der Computergeschichte, weil hier die Lochkarte zum ersten Mal zur Steuerung einer industriellen Produktion verwendet wurde. Sein Erfinder war Joseph-Marie Jacquard (1752 - 1834), der durch seine geniale Weiterentwicklung maßgeblich zur industriellen Revolution beitrug.

Von Napoleon gefördert

Nach dem Tod der Eltern 1772 erbte der 20-jährige Jacquard die Manufaktur und versuchte sich an technischen Verbesserungen des Webvorgangs, jedoch ohne Erfolg, so dass er zunehmend verarmte. Als Lyon 1789 zu einem der Brennpunkte der Französischen Revolution wurde, musste er die Stadt verlassen. Sechs Jahre später kehrte er zurück und machte sich erneut daran, den Webstuhl zu automatisieren.

Vermögende Textilhersteller erkannten den Wert seiner Arbeiten und unterstützten ihn finanziell. Wichtige Verbesserungen am Produktionsprozess und den Webstühlen brachten ihm Bekanntheit ein. Selbst Kaiser Napoleon wurde schließlich auf ihn aufmerksam und verhalf ihm im Jahr 1804 zu einer Berufung an das „Conservatoire des arts et métiers“. Dort entdeckte er Überreste eines mechanischen Musterwebstuhls, den der Ingenieur Jacques de Vaucanson ein halbes Jahrhundert zuvor konstruiert hatte.

Weiterentwicklung des Webstuhls von Vaucanson

Vaucanson, der berühmteste Automatenbauer des 18. Jahrhunderts war es, der den ersten Gedanken an einen digital gesteuerten Webstuhl hatte. Vorrangig entwickelte er Spielereien, wie z. B. automatische Spieluhren für die Gesellschaft des Rokokos, beschäftigte sich aber auch mit ernsten Aufgaben. Bereits 1745 wurde das erste Modell eines von ihm konstruierten Webstuhles hergestellt, das mit Hilfe eines nachträglich angebrachten Mechanismus die Herstellung gemusterter Stoffe möglich machte.

Zurückgegriffen hatte er dabei auf eine bereits zuvor in Österreich verwendete Nockenwalze, die die jeweiligen Harnischfäden über kleine Häkchen direkt anhob. Allerdings war der Umfang des Musters durch die Größe der Walze recht begrenzt. Jacquard entwickelte diese Steuerung weiter und ihm gelang schließlich im Jahr 1805 die Erfindung, die zu einer Grundlage der industriellen Revolution in der Textilproduktion werden sollte: Der lochkartengesteuerten Webstuhl. Die zeitraubende und eintönige Arbeit des Fadenziehens von Hand war endgültig vorbei.

Vater des binären Systems ...

Jacquards revolutionäre Verbesserung war die Realisierung des Endlosprinzips der Lochkartensteuerung. Durch die Lochkarte, die alle Informationen über das zu webende Muster enthielt, konnten endlose Muster von beliebiger Komplexität mechanisch hergestellt werden. Ein solcher Webstuhl war die erste „programmierbare“ Maschine für die „Bildverarbeitung“ und legte somit einen Grundstein zur heutigen Automatisierung.

Jacquard trennte bereits die Software von der Hardware. Er führte auch als Erster das binäre System in den Maschinenbau ein – bis heute die Grundarchitektur aller Daten verarbeitenden Maschinen und Computer. Seine Lochkarte, bei der es sich eigentlich um einen – je nach Musterung – sehr langen Lochstreifen handelte, basierte nämlich auf einer frühen Anwendung der binären bzw. Digitaltechnik, Null oder Eins.

Napoleon war von Jacquards Steuerungssystem begeistert und sprach ihm zur Belohnung eine lebenslange Rente zu. 1806 versuchte der Kaiser die neuen Webstühle per Regierungsdekret durchzusetzen. Zwar stieß er damit auf erbitterten Widerstand der Zünfte, die sich durch die zunehmende Automatisierung in der Textilindustrie bedroht fühlten, aber der technische Fortschritt des Jacquard Webstuhls war nicht aufzuhalten. Im Jahr 1810 wurde Jacquard mit dem Kreuz der Ehrenlegion geehrt. 1812 gab es in Frankreich schon rund 18.000 Jacquard-Webstühle.

... und des Computers

Am 7. August 1834 starb Joseph-Marie Jacquard mit 82 Jahren. 50 Jahre später führte der Amerikaner Herman Hollerith Jacquards Lochkarten in die Datenverarbeitung ein und bahnte so der binären Computerprogrammierung den Weg. Aus dem von Hollerith gegründeten Unternehmen entstand 1924 die „International Business Machines Corporation“, kurz IBM.

Heute wiederum profitieren die Hersteller von Jacquard-Mustern von der rasanten Entwicklung der Computertechnologie, die damit nach über 200 Jahren zu ihrem Ursprung zurückgekehrt ist und eine neue Ära für die Herstellung dieser Gewebe eingeläutet hat.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2017 März/April