Neuartige Biopolymerfasern

Medizinische und textiltechnische Anwendungen

Beitrag von Dipl.-Ing. Irina Kuznik Dr.-Ing. Iris Kruppke Dr.-Ing. Dilbar Aibibu Prof. Dr.-Ing. habil. Dipl.-Wirt. Ing. Chokri Cherif Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik (ITM), TU Dresden

Der demografische Wandel in Deutschland und die sich rasant verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen bringen große Herausforderungen für eine effiziente Gesundheitsversorgung der Bevölkerung besonders im Bereich der regenerativen Medizin mit sich. Stetige Weiterentwicklung der entsprechenden Medizintechnik leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zu einer Verbesserung der Gesundheitspflege und ärztlicher Behandlungen, sondern stellt zugleich einen bedeutenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktfaktor dar. Im Bereich der Medizinprodukte werden in Deutschland rund 33,4 Mrd. € Umsatz erzielt, wobei sehr intensiv an technischtechnologischen Lösungen, wie Implantate, Zellträgersysteme, Orthesen oder Wundverbände, gearbeitet wird.

 

Fasern als Grundbausteine von Implantaten schaffen einen zunehmend wichtigen Schwerpunkt in der Medizin. Textile Strukturen bieten hervorragende Voraussetzungen für den Einsatz als Implantat oder Organersatz. Die einstellbaren mechanischen Eigenschaften der flexiblen faserbasierten Materialien und das hervorragende Verhältnis von Oberfläche zu Volumen sind wesentliche Gründe für den wachsenden Einsatz im Bereich der Medizin. Der native Aufbau verschiedener Organe, wie Knochen und Blutgefäße, sowie die fibrillen Strukturen, wie Muskeln, Sehnen und Bänder, lassen sich besonders gut mittels textiler Strukturen aus modernen Biomaterialien nachahmen. Gefragt sind dabei Materialien, die nicht nur die erforderlichen mechanischen Eigenschaften wie Härte oder Elastizität mitbringen, sondern auch die Regeneration von Gewebe – etwa von Knochen – unterstützen bzw. fördern.

Ein hervorragendes Beispiel für ein solches Biomaterial stellt das natürliche Biopolymer Chitin dar. Chitin ist ein nachwachsender Rohstoff mit dem weltweit zweithäufigsten Vorkommen, von dem schätzungsweise zehn Gigatonnen jährlich durch natürliche Biosynthese anfallen [1]. In seiner Struktur ähnelt Chitin sehr stark dem Aufbau von Cellulose, wodurch sich vergleichbar hohe mechanische Eigenschaften besonders in Bezug auf das elastische und biegsame Verhalten ergeben. Aufgrund seiner stabilen, halbkristallinen Struktur verfügt Chitin jedoch über eine stark limitierte Löslichkeit, wodurch die generelle Weiterverarbeitung des Biopolymers beträchtlich eingeschränkt ist. Deshalb findet das Chitinderivat Chitosan eine deutlich breitere Anwendung in der Forschung und Materialentwicklung.

Das Biopolymer Chitin sowie sein Derivat Chitosan verfügen über herausragende Eigenschaften, die eine Möglichkeit zur Anwendung in zahlreichen Gebieten der Industrie, Medizin und Forschung bieten. Neben der biologischen Abbaubarkeit sowie Biokompatibilität sind Chitin und Chitosan ungiftig, bilden keine toxischen Abbauprodukte und sind durch eine antimikrobielle Wirkung gekennzeichnet. Die freien Aminogruppen verleihen Chitosan eine gute Löslichkeit in verdünnten organischen Säuren, wie Essig-, Milch- oder Zitronensäure. In gelöster Form kann das Biopolymer an seinen funktionellen Gruppen mit zahlreichen anderen Verbindungen zur Reaktion gebracht und die erzeugten viskosen Lösungen bspw. zu (Nano-)Fasern [2] oder Endlosfilamenten [3] verarbeitet werden (Abbildung 1). Durch zusätzliche chemische Modifizierungen, z. B. eine Vernetzungsreaktion mit Glutardialdehyd, lassen sich die Materialeigenschaften, wie Stabilität oder Wasserlöslichkeit, anwendungsspezifisch einstellen. Aufgrund der hohen Biokompatibilität, der gezielten Abbaubarkeit im menschlichen Körper sowie seines positiven Einflusses auf die Wundheilung und Geweberegeneration ist Chitosan ein attraktives Biomaterial für zahlreiche Medizinprodukte sowie als Implantatmaterial (Scaffolds) für die regenerative Medizin. Durch die hohe strukturelle Ähnlichkeit mit den Bausteinen der extrazellulären Matrix (Glykosaminolykane, GAG), die eine wichtige Rolle beim Knochenwachstum spielen, sind Chitin und Chitosan für das Tissue Engineering von Knochengeweben prädestiniert [4]. Darüber hinaus sind aufgrund eines hohen Bindungsvermögens sowie einer ausgeprägten Affinität Chitosans zur Komplexbildung mit Metallionen auch zahlreiche Anwendungen im technischen Bereich möglich, bspw. Filtersysteme für die Abtrennung von Schwermetallen oder die Elimination von Farbstoffen aus Abwässern der Textilindustrie [5, 6].

In verschiedenen Forschungsprojekten befasst sich das ITM interdisziplinär mit der Entwicklung der Technologie zur Realisierung von maßgeschneiderten Chitosanfilamentgarnen und deren Einsatz als völlig neuartige Produkte für die regenerative Medizin. Zur Chitosanfilamentgarnerspinnung wurde am ITM ein geeignetes Lösungsmittelnassspinnverfahren entwickelt [3]. Mittels der am ITM hergestellten Chitosanfilamentgarne wurde bereits eine Vielzahl von Anwendungen, wie resorbierbares OP-Nahtmaterial, Scaffolds [2, 7], Implantate [8] oder Medikamentenabgabesysteme [9], erforscht. Die neuesten Entwicklungen am ITM beschäftigen sich mit der Etablierung eines alternativen nachhaltigen Spinnverfahrens für Chitosanfasern auf Basis von ionischen Flüssigkeiten [10]. Diese recyclebaren, nicht-toxischen Lösungsmittel verfügen über ein exzellentes Lösungsvermögen für Chitin und Chitosan und bieten eine Vielfalt an vorteilhaften Material-, Prozess- und Verarbeitungseigenschaften, wie hohe Prozessrobustheit sowie ein großes Potenzial für eine zielgerichtete Wirkstofffunktionalisierung im neutralen wässrigen Medium.

Mit Kooperationspartnern aus medizinischen, klinischen sowie industriellen Bereichen forscht das ITM entlang der gesamten Wertschöpfungskette vom Biomaterial bis zur (prä-)klinischen Erprobung faserbasierter Implantate. Das ITM verfügt im Bereich der textilbasierten Biomedizintechnik über langjährige Erfahrungen und Kompetenzen in grundlagenorientierter und anwendungsnaher Forschung. Mit den breitgefächerten Anlagentechniken, Reinräumen und Prüflaboren steht insbesondere der Transfer von der Forschung in marktreife Produkte im Fokus der Entwicklungsarbeiten. So entwickelten die Wissenschaftler:innen des ITM im Rahmen eines Forschungsprojektes der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) bspw. neuartige textile Herzklappenprothesen [11] (Abbildung 2). Die Implantate können exakt an die individuelle anatomische Form auf Basis vom am ITM entwickelten generativen Verfahren angepasst und mittels eines minimalinvasiven Eingriffes im Herz platziert werden. Die textile Herzklappe ist integral gefertigt, wobei die Integration des Ventils in situ während des Webprozesses ohne zusätzliche Fügeprozesse, wie bspw. Nähen, erfolgt. Somit besteht die strömungstechnisch optimierte Herzklappe aus einer einzigen textilen Struktur. Bislang stehen für die Behandlung defekter Herzklappen mechanische und biologische Klappen zur Verfügung. Die neuartigen gewebten Herzklappenprothesen sollen die Vorteile der beiden Typen vereinen: unbegrenzte Lebensdauer, keine lebenslange Einnahme von blutverdünnenden Medikamenten und minimal invasive Operation.

Quellen:

[1] KUMAR, M. N. V. R.; MUZZARELLI, R. A. A.; MUZZARELLI, C.; SASHIWA, H.; DOMB, A. J.: Chitosan chemistry and pharmaceutical perspectives. Chemical reviews 104(2004)12, pp. 6017–6084.

[2] HILD, M.; TOSKAS, G.; AIBIBU, D.; WITTENBURG, G.; MEISSNER, H.; CHERIF, C.; HUND, R.-D.: Chitosan/gelatin micro/nanofiber 3D composite scaffolds for regenerative medicine. Composite Interfaces 21(2014)4, pp. 301–308.

[3] TOSKAS, G.; BRÜNLER, R.; HUND, H.; HUND, R.-D.; HILD, M.; AIBIBU, D.; CHERIF, C.: Pure chitosan microfibres for biomedical applications. Autex Research Journal 13(2013)4, pp. 134–140.

[4] SUZUKI, D.; TAKAHASHI, M.; ABE, M.; SARUKAWA, J.; TAMURA, H.; TOKURA, S.; KURAHASHI, Y.; NAGANO, A.: Com-parison of various mixtures of beta-chitin and chitosan as a scaffold for three-dimensional culture of rab-bit chondrocytes. Journal of materials science. Materials in medicine 19(2008)3, pp. 1307–1315.

[5] DESBRIÈRES, J.; GUIBAL, E.: Chitosan for wastewater treatment. Polymer International 67(2018)1, pp. 7–14.

[6] VAKILI, M.; RAFATULLAH, M.; SALAMATINIA, B.; ABDULLAH, A. Z.; IBRAHIM, M. H.; TAN, K. B.; GHOLAMI, Z.; AMOUZGAR, P.: Application of chitosan and its derivatives as adsorbents for dye removal from water and wastewater: a review. Carbohydrate polymers 113(2014), pp. 115–130.

[7] HILD, M.; BRÜNLER, R.; JÄGER, M.; LAOURINE, E.; SCHEID, L.; HAUPT, D.; AIBIBU, D.; CHERIF, C.; HANKE, T.: Net Shape Nonwoven: a novel technique for porous three-dimensional nonwoven hybrid scaffolds. Texti-le Research Journal 84(2014)10, pp. 1084–1094.

[8] BRÜNLER, R.; EGER, M.; LUKOSCHEK, S.; AIBIBU, D.; CHERIF, C.; BREIER, A.; ELSCHNER, C.; HAHN, J.; BITTRICH, L.; SPICKENHEUER, A.; VATER, C.; PETTO, C.; GELINSKY, M.: Gestickte Herniennetze aus Chitosan mit lokal einstellbaren Steifigkeiten zum Einsatz als Implantatmaterial. Technische Textilien 61(2018)4, pp. 182–184.

[9] LUKOSCHEK, S.; WÖLTJE, M.; HUND, R.-D.; AIBIBU, D.; CHERIF, C.: Fiber-based chitosan drug delivery systems for the treatment of chronic wounds. Aachen-Dresden-Denkendorf International Textile Conference, Aachen, 29. - 30. November, 2018.

[10] KUZNIK, I.; KRUPPKE, I.; CHERIF, C.: Pure Chitosan-Based Fibers Manufactured by a Wet Spinning Lab-Scale Process Using Ionic Liquids. Polymers 14(2022)3.

[11] Technische Universität Dresden News: techtextil Innovation Award 2022 geht an das ITM für entwi-ckelte neuartige textile Herzklappenprothesen. tu-dresden.de/ing/maschinenwesen/itm/ das-institut/news/news-news/techtextil-innovation-award-2022

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2022  NOV/DEZ