Textil? Textil. Textil!

Beitrag von Univ.-Prof. Prof. h.c. Dr.-Ing. Dipl.-Wirt.-Ing. Thomas Gries Lehrstuhl für Textilmaschinenbau der Fakultät Maschinenbau, Direktor des Instituts für Textiltechnik der RWTH Aachen und Dr.-Ing. Bernhard Schmenk Leiter des Bereichs Corporate Development des Instituts für Textiltechnik der RWTH Aachen

Textilien kennt jeder Mensch – Beispiele hierfür sind die Bekleidung und Heimtextilien. Die Vielfalt faserbasierter Werkstoffe insgesamt, die immense Breite der Anwendungen und die Innovationskraft dieser Branche sind in Deutschland leider kaum bekannt. Dabei sind zahlreiche deutsche Unternehmen Weltmarktführer im Bereich des Textilmaschinenbaus oder in der Produktion qualitativ hochwertiger technischer Textilien. Deutschland ist Innovationstreiber für diese Branche!

Die Vielfalt von Textilien

Textilien können weich und dehnbar sein, wie zum Beispiel bei Sportbekleidungen oder hart und steif, wie zum Beispiel bei Faserverbundwerkstoffen in den Flügeln von Windkraftanlagen, in KFZ-Karosserien oder sogar in Musikinstrumenten. Sie können leicht sein wie bei Füllmaterialien als Kissenfüllung, sie können schwer sein wie bei Geotextilien, die nur noch mit schwerem Gerät bewegt werden können. Textilien können durchlässig sein wie bei Gardinen oder Netzen, oder sie können dicht sein, wie zum Beispiel LKW-Planen oder Wasserstoff-Tanks. Textilien können degradieren, wie zum Beispiel bei biologischen Implantaten im menschlichen Körper oder sie können dauerhaft sein, wie bei textilbewehrtem Beton. Sie können elektrisch und thermisch leitfähig sein, wie zum Beispiel bei textilen Dehnungssensoren in Aufzugseilen und sie können Hitze und auch Strom isolieren, wie zum Beispiel in Schutzbekleidung für die Feuerwehr.

Potenzial faserbasierter Werkstoffe und Produkte

Der überwiegende Teil der natürlichen Strukturwerkstoffe ist faserbasiert. Das gilt sowohl für die Flora, alle Bäume, Pflanzen, als auch für die Menschen und die Fauna, wie in Knochen, Bindegewebe, Muskeln und so weiter. Beispiele aus der Natur zeigen uns das enorme Potenzial für innovative technische Anwendungen faserbasierter Werkstoffe. Die oben genannten Anwendungsbeispiele verdeutlichen die technische Bedeutung dieser Werkstoffklasse. Aber auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht ist diese Branche von enormer Bedeutung. Die Textilindustrie ist der zweitgrößte Konsumsektor in Deutschland und weltweit der drittgrößte Wirtschaftssektor. Jedes Jahr werden mehr als 100 Mio. Tonnen Fasern produziert und zu Textilien verarbeitet.

Herausforderung Textile Kreislaufwirtschaft

Die Textilindustrie steht vor großen Herausforderungen – bezüglich ihrer Rohstoffquellen, ihrer Wertschöpfungsprozesse und Geschäftsmodelle. Etwa 8 – 10 % (ca. 4 bis 5 Milliarden Tonnen) der weltweiten CO2 -Emissionen werden bei der Herstellung von Textilien verursacht. Die Textilindustrie ist für etwa 92 Millionen Tonnen Textilabfälle pro Jahr verantwortlich, von denen der größte Teil deponiert oder verbrannt wird. Weniger als 1 % der 100 Milliarden Textilien, die jährlich weltweit hergestellt werden, werden recycelt und zu hochwertigen Produkten aufbereitet. Die Textilindustrie ist also noch weit von einer Circular Economy entfernt.

Im Rahmen des Green Deal hat die EU ihre „Strategy for Sustainable and Circular Textiles – Textil-Agenda 2022“ veröffentlicht. Diese beschreibt verbindliche Maßnahmen für langlebige und recyclebare textile Produkte, die frei von gefährlichen Inhaltstoffen sind und in der Produktion den Respekt der sozialen wie auch der Umweltaspekte berücksichtigen. Die Direktive beinhaltet auch Forderungen wie Vermeidung von Überproduktion, Design for Recycling, Exportverbot von Abfällen oder einer erweiterten Produkthaftung. Die Textilindustrie steht somit vor einem Paradigmenwechsel. Um diesen zu gestalten, braucht es die oben bereits genannte interdisziplinäre Zusammenarbeit von Technik, Naturwissenschaft mit den Gesellschaftswissenschaften. Nachfolgend werden verschiedene Lösungsansätze beschrieben.

Alternative Rohstoffquellen

Chemiefasern (z. B. Polyester, Polyamid etc.) werden bisher fast ausschließlich mineralöl-basiert produziert, ca. 70 Mio to/a. Alternative Rohstoffquellen sind zum einen Biomasse-basierte Ressourcen. Ein innovativer Ansatz ist hierbei die Nutzung von Agrar-Reststoffen, die nicht der Nahrungsmittelproduktion dienen, als Wertstoff für eine nachhaltige Faserproduktion. Eine regionale Umsetzung dieses neuen Wertschöpfungsmodells ist im Rahmen des Innovationsbündnisses Agrar-Textil-Lebensmittel INGRAIN auf dem Weg. Einen anderen Ansatz verfolgt der Innovationsraum BIOTEXFUTURE: In einem sehr breiten Rahmen werden hier biobasierte Rohstoffe für die Faserproduktion entwickelt und erprobt, z. B unter Nutzung biotechnologischer Ansätze. Als Beispiel sei hier der Ansatz genannt, Chemiefasern auf der Basis von Mikroalgen zu produzieren.

Ein wieder anderer Ansatz ist die Nutzung von CO2 als Rohstoffquelle. Dieses Klimagas fällt in großen Mengen in chemischen Prozessen an und kann als Ausgangsstoff für die Produktion von thermoplastischen Urethanen (TPU) genutzt werden. Diese TPU sind als Ausgangsmaterial für hochelastische Fasermaterialien geeignet, z. B. für die Sportbekleidung. Das Institut für Textiltechnik (ITA) entwickelt gemeinsam mit einem Industriekonsortium eine modifizierte Prozesstechnologie mit dem Ziel einer industrieskaligen Produktion und Verarbeitung dieser neuen Chemiefasern zu hochwertiger (Sport-)Bekleidung.

Naturfasern

Eine weitere Route zur Defossilisierung besteht in der Nutzung von Naturfasern, nicht nur für Bekleidung, sondern auch für technische Zwecke. Mit einem Demonstrator konnte gezeigt werden, wie aus Flachsfasern zusammen mit einem biobasierten Harz ein Faserverbundwerkstoff hergestellt werden kann. In diesem Projekt wurde exemplarisch ein Surfboard aus dieser neuartigen Werkstoffkombination produziert.

Heute noch Abfall – morgen Rohstoff für anspruchsvolle Produkte

Bisher häufig verfolgte Ansätze zum textilen „Recycling“ im Sinne eines Downcycling (Putzlappen, Malervliese, ...) sind keine Lösungsansätze für die gewaltigen Herausforderungen einer textilen Circular Economy. Alttextilien sind gekennzeichnet durch eine extreme Materialvielfalt, die eine sortenreine Sammlung erschwert. FastFashion als Form der geplanten Überproduktion überschwemmt den Markt mit Produkten minderwertiger Qualität, die nicht für eine längere Nutzungsdauer ausgelegt sind. Um Textilrecycling im Sinne der EU-Direktive umzusetzen, bedarf es vielfältiger Lösungsansätze, die Herausforderungen dazu sind mannigfaltig:

  • Logistik der Sammlung und Sortierung der Alttextilien
  • Material-Identifizierung und -Separierung
  • Mechanische, chemische Prozesse für den Aufschluss zur Einzelfaser für ein Fiber-to-Fiber-Recycling
  • Angepasste Prozesse für die textile Weiterverarbeitung für die recyclierten Fasern (Garn- und Flächenherstellung, Veredlung, Konfektionierung)

Diese Herausforderungen erfordern ein Umdenken aller Akteure der gesamten Wertschöpfungskette – vom RohstoffLieferanten bis zum Verbraucher. Design for Recycling ist unabdingbar: Langlebige Produkte, bei denen das Recycling schon im Design mitgedacht wird (Materialmix, Trennbarkeit etc.). Weiterhin werden neue Wertschöpfungs- und Geschäftsmodelle entwickelt, damit die Schritte von der Sammlungslogistik bis zur Produktion neuer Textilien wirtschaftlich skalierbar werden. Dies führt auch zu neuen Arbeitsplätzen mit bisher nicht definierten Qualifikationsanforderungen.

Zukunft der Arbeit und Qualifizierung

Die Qualifizierung für diese neue Technologien kann nicht warten bis Curricula in der Berufsbildung oder in der Academia geändert werden. Notwendige Kompetenzen müssen sehr anwendungsnah oder im training on the job im Unternehmen vermittelt werden – z. B. durch lernförderliche digitale Assistenzsysteme. Ein gutes Beispiel für diesen Ansatz hier ist das Digital Capability Center (DCC), das 2016 gemeinsam mit McKinsey und dem Institut für Textiltechnik in Aachen eröffnet wurde. Es war zu dem damaligen Zeitpunkt die weltweit erste Lernfabrik für Industrie 4.0 in der Textilbranche. Im DCC werden an einer geschlossenen Prozesskette die neusten Entwicklungen der industriellen Digitalisierung demonstriert. Inzwischen stehen zahlreiche Lernmodule zur Verfügung. Diese betreffen auch aktuellste technologische Entwicklungen wie Virtual (VR) und Augemented Reality (AR), industrielle KI- und Blockchain-Anwendungen. Seit einiger Zeit nutzen auch Unternehmen außerhalb der Textilbranche die Angebote, um einen konkreten Einblick in die digitale Transformation zu erhalten.

Die Auswirkungen der Nutzung von industriellen KI-Anwendungen auf konkrete Arbeitsformen auf dem Shopfloor werden im Rahmen eines regionalen Kompetenzzentrums der Arbeitsforschung im Rheinischen Revier untersucht. Das Projekt WIRKsam entwickelt innovative Arbeits- und Prozessabläufe mit Künstlicher Intelligenz für die Handlungsfelder Wissensmanagement, Prozessplanung und Qualitätssicherung.

Digitalisierung und Circular Economy

Diese auf den ersten Blick nicht miteinander verbundenen Entwicklungstrends sind bei genauer Betrachtung viel enger verknüpft als allgemein angenommen. Als ein Beispiel kann das Projekt CISUFLO genannt werden. Hier werden neuartige Wege zum Recycling von Teppichböden und Heimtextilien gegangen. Basis für den Durchbruch eines Recyclings von Bodenbelägen ist ein digitaler Produktpass, der gemeinsam mit den Projektpartnern und dem ITA am Digital Capability Center (DCC) in Aachen entwickelt wird.

Business Modelle

Die neuen Formen der Digitalisierung aber auch der Bioökonomie erfordern neue Geschäftsmodelle. Um diese erfahrbar zu machen, wird gemeinsam mit der Stadt Mönchengladbach, dem ITA, der Hochschule Niederrhein und zwei Textilverbänden in NRW in Mönchengladbach der Textilpark der Zukunft „T7" konzipiert und vorbereitet. Das vorgesehene Industrieareal von mehr als 20 Hektar bietet die Möglichkeit, innovative Produktionsformen (die Textilfabrik der Zukunft) anzusiedeln und neue Geschäftsmodelle zu erproben. Teil der Initiative ist es, die Energieversorgung mit erneuerbaren Energien und das Datennetz auf höchstem Niveau zu realisieren. So können vom Startup und ersten Projekttreffen bis hin zu industriellen Implementierung die verschiedenen Skalen einer textilen maßgeschneiderten regionalen Produktion umgesetzt und wirtschaftlich betrieben werden.

Forschungskooperation

Die oben genannten Beispiele sind alle als transdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsprojekte angelegt. Das heißt, dass verschiedene Wissenschaftsdisziplinen gemeinsam mit Stakeholdern aus der Breite der Gesellschaft die entsprechenden Themen vorantreiben. Dies betrifft natürlich Unternehmen, aber auch Sozialpartner, Verbände, Bildungsträger etc. Ein weiteres Stichwort heißt Open Innovation. Ein Beispiel hierfür ist die Plattform TexSpace als digitale Plattform für die Vernetzung und das Matchmaking von innovationsorientierten Marktteilnehmern aus Industrie, Forschung, Bildung.

Die Bedeutung der Textilbranche nimmt weiter zu. Faserbasierte Werkstoffe sind Enabler für viele andere Branchen. Die Produktion wird digital und die Umsetzung einer Circular Economy ist auf dem Weg. Die Rohstoffversorgung zielt auf eine nachhaltige Basis. Neue Geschäftsmodelle werden auch diese Branche nachhaltig beeinflussen und vorantreiben.

ITA

Das Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen University unter Leitung von Prof. Thomas Gries ist der Kern der ITA Group, International Center for Sustainable Textiles. Die ITA Group ist ein Forschungs- und Qualifizierungsdienstleister für faserbasierte Werkstoffe, textile Produktionstechnologien und innovative technische Textilen mit ca. 400 Mitarbeitenden in Aachen und Augsburg. Nachhaltig, digital und individuell ist die Kernbotschaft des Instituts.

Links

Institut für Textiltechnik: www.ita.rwth-aachen.de​​​​​​​

Digital Capability Center: dcc-aachen.de/de/

BiotexFuture: www.biotexfuture.de/

INGRAIN: www.ingrain.nrw

CISUFLOW: www.cordis.europa.eu/project/ id/101003893

WIKRKsam: www.wirksam.nrw

Texspace: www.texspace.com

 

 

 

 

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 2022  NOV/DEZ