Tourismuswirtschaft – eine unterschätzte Branche

Beitrag von Prof. Dr. Markus Pillmayer Fakultät für Tourismus Hochschule München

Seit dem ersten Lockdown im März 2020 ist die globale Freizeit- und Tourismusbranche durch die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie mit großen Herausforderungen konfrontiert. Weltweit haben die verschiedenen Regulierungsmaßnahmen, die in letzter Instanz de facto zu einem Berufsverbot geführt haben, eine Branche zum Erliegen gebracht, die sich bis dato in den letzten Jahren als eine der größten Wachstums- und Erfolgsbranchen verstanden hat. Touristische Leistungsträger wie bspw. internationale Fluggesellschaften, Reisebüros und Reiseveranstalter, Unterkunfts- und Gastronomiebetriebe, Kultur-, Erholungs- und Freizeiteinrichtungen, Dienstleister wie bspw. Stadtführer:innen etc. sind seitdem mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert. Seit Ausbruch der Pandemie besticht deren Alltag durch Reiserestriktionen je nach Infektionsgeschehen, regelmäßige Schließungen, unterschiedliche Öffnungsszenarien und diverse Auflagen, die sich sowohl global als auch national betrachtet in hohem Ausmaß unterscheiden.

Leitökonomie Freizeit und Tourismus – eine unterschätzte Branche

Die wirtschaftliche Bedeutung der internationalen Freizeit- und Tourismusbranche wird nach wie vor massiv unterschätzt: so gilt die Branche im Jahr 2019 als drittgrößte Exportkategorie der Welt nach Brennstoffen und Chemikalien und vor Automobilprodukten und Lebensmitteln. Im OECD-Durchschnitt steuert Freizeit, Erholung und Reisen direkt 4,4 % zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), 6,9 % zur Beschäftigung und 21,5 % zu den globalen Dienstleistungsexporten in den OECD-Ländern bei. Tourismus generiert Devisen, treibt die regionale Entwicklung voran und schafft eine Vielzahl von direkten und indirekten Arbeitsplätzen. Der arbeitsintensive Sektor sorgt nicht nur in Großstädten oder Metropolregionen, sondern auch in ländlichen oder abgelegenen Räumen für eine alternative und attraktive Einkommensmöglichkeit. Die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf den internationalen Tourismus sind dramatisch: die touristische Wirtschaftsleistung hat sich im Jahr 2020 nahezu halbiert; ca. 100 Millionen direkte Arbeitsplätze sind nach Ansicht der Welttourismusorganisation UNWTO gefährdet, zusätzlich zu den mit dem Tourismus verbundenen Sektoren wie dem arbeitsintensiven Beherbergungs- und Gaststättengewerbe, das weltweit etwa 144 Millionen Arbeitnehmer:innen beschäftigt. Frauen, die 54 % der Beschäftigten im Tourismus ausmachen, Jugendliche und informell Beschäftigte gehören zu den am stärksten gefährdeten Berufsgruppen.

In Deutschland umfasst der Tourismus nach Berechnungen des Bundesverbandes der deutschen Tourismuswirtschaft BTW etwa 3 Millionen Beschäftigte und erwirtschaftet 290 Milliarden Euro Umsatz. Das entspricht etwa 3,9 % direktem Anteil am deutschen BIP. Dazu zählen noch indirekte wirtschaftlichen Effekte wie z. B. verschiedene Vorleistungen – Lieferungen von Bäckereien an Unterkunftsbetriebe oder Renovierungsarbeiten durch Handwerker. Diese umfassen weitere etwa 76 Milliarden Euro und 1,25 Million Beschäftigte in Deutschland. Ähnliches gilt für die Freizeit- und Tourismusbranche in Bayern, die als Leitökonomie und als einer der wichtigsten Arbeitgeber gilt. Bis zu 600.000 Personen erzielen ihr Einkommen vollständig im Tourismus. Die Branche leistet einen erheblichen Beitrag zum BIP und ist vor allem auch im ländlichen Raum ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. So geben Touristen in Bayern jedes Jahr rund 33,9 Milliarden Euro aus. Erzielte die Branche über die letzten Jahre hinweg regelmäßig neue Zuwächse, erfolgte mit der weltweiten COVID-19 Pandemie ein Einbruch in der Tourismusbilanz 2020 und 2021. Damit steht die bayerische Freizeit- und Tourismusbranche vor immensen Herausforderungen, die die Branche über Jahre hinaus charakterisieren und zu einem Umbruch führen wird.

Verantwortungsbewusstsein einer leidgeprüften Branche

Dennoch hat die internationale und insbesondere nationale Freizeit- und Tourismusbranche mit einer pauschalen negativen Stigmatisierung zu kämpfen: Urlaubsreisen, Freizeit- und Sportaktivitäten werden von der Politik als generelle Pandemietreiber gesehen. Ebenso schlägt die mediale Berichterstattung eine ähnliche Tonalität an. Nahezu alle touristischen Leistungsträger in Deutschland, wie Unterkunfts- und Gastronomiebetriebe, Transportunternehmen wie bspw. Seilbahnen oder auch Museen und Konzertsäle, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, haben ihre vor der Pandemie existierenden Hygienekonzepte kontinuierlich verbessert und ihre Funktionsfähigkeit im Sommer 2020 und 2021 deutlich unter Beweis gestellt.

Zukunft des Tourismus?

Seriöse Prognosen für die mittel- bis langfristige Entwicklung der Freizeit- und Tourismusbranche lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht treffen. So hängen viele Reisegebiete von dem Infektionsgeschehen vor Ort ab und den Bewältigungsstrategien, die in diesem Zusammenhang von den örtlichen Behörden und touristischen Leistungsträgern getroffen werden. Ebenso müssen Lockerungen bzw. Rücknahme von Maßnahmen, die 2022 nach und nach erfolgen, berücksichtigt werden. Reisende werden daher bis auf Weiteres zu Spontanität in ihren Buchungsentscheidungen tendieren und ein hohes Maß an Flexibilität an den Tag legen müssen. Insofern wird sich der Urlaub in Deutschland bzw. im näheren regionalen Umfeld oder im nahen europäischen Ausland einer ähnlichen Nachfrage erfreuen, wie schon in den letzten beiden Jahren. Hier liegt jedoch auch eine Chance, bspw. mehr auf Resonanztourismus oder naturnahen Tourismus zu setzen. Tourismusunternehmen sind zunehmend gefordert, ihre bestehenden Geschäftsmodelle kritisch zu hinterfragen. Eine wissenschaftliche Begleitung, die evidenzbasierte Erkenntnisse generiert, ist daher mehr als dringend geboten.

Tourismusforschung in Deutschland

Vor diesem Hintergrund kommt der Tourismusforschung an Universitäten und Hochschulen eine zentrale Bedeutung zu, die sowohl in der Grundlagenforschung als auch im anwendungsbezogenen Transfer einen in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität wichtigen Beitrag leisten kann. Allerdings unterliegt die Tourismusforschung in Deutschland seit einigen Jahren einem Strukturwandel, der für sie aus heutiger Perspektive als Nachteil bzw. Rückschritt interpretiert werden muss. So sind es heute nur wenige Universitäten, die über Lehrstühle und Professuren mit „Tourismus“ in ihren Bezeichnungen verfügen. Die staatlichen und privaten Fachhochschulen oder Hochschulen für angewandte Wissenschaften hingegen weisen aufgrund steigender Nachfrage immer mehr touristische Studiengänge aus. Auf den ersten Blick ist dies ein erfreulicher Umstand, der auch der steigenden Bedeutung einer Leitökonomie Rechnung trägt – allerdings ohne entsprechende Rahmenbedingungen und Ausstattung im Bereich Infrastruktur und Personal, um ernsthaft nachhaltige Forschungsaktivitäten entwickeln zu können.

Tourismusforschung in Bayern

Im Zuge der Tourismusinitiative des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie wurde 2019 das Bayerische Zentrum für Tourismus (BZT) als An-Institut der Hochschule Kempten gegründet und wird bis 2024 gefördert. Aufgabe des BZT ist, Wissensaustausch zwischen bayerischer Tourismuswirtschaft und Tourismusforschung zu gewährleisten. Das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie versteht sich angesichts der vorhandenen Rahmenbedingungen als Partner einer standortbezogenen Tourismusforschung.

Vor diesem Hintergrund werden exemplarisch zwei anwendungsbezogene Forschungsprojekte vorgestellt, die zum einen vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie direkt gefördert werden, zum anderen eine Förderung durch das BZT erfahren (siehe Infokasten).

Die derzeitige Pandemie wird enden, das Bedürfnis zu reisen nicht. In welcher Form sich der Tourismus entwickeln wird, kann niemand mit Sicherheit vorhersagen. Aber wir können und müssen bei seiner Gestaltung mitwirken.

Erstmals erschienen in: TiB Ausgabe 03/2022 MAI/JUN